Mein Jahr als Mörder
Morgana vor uns, immer weiter weg rückend, je näher und höher wir kamen. Ein in die Luft gespiegeltes Panorama von fast 360 Grad Weite, das nicht das Geringste von dem zeigte, was wir unser Leben nannten, nichts, wie wir hier wohnten, wie wir lernten, rebellierten, vagabundierten. Als gäbe es uns gar nicht in dieser Oase mitten in der Wüste der Kiefernwälder. Und keine Richter, Politiker, Beamten, Rentner und all die ungehobelten Gestalten. Unter den Dächern, sagte das Bild, vor dem Funkturm, dem Europacenter, den Backsteinkirchen sind wir alle gleich. Die Stadt da unten schien so neutral wie ihre Fassaden, mit so viel Platz, so vielen Möglichkeiten. Die Zukunft, die Vernunft, die besseren Argumente und das Wahre Schöne Gute, alles, was, wie ich damals dachte, sowieso auf unserer Seite war, passte in dies zerzauste, zerstrittene, verrückte Berlin. Unsere Ideen, bildete ich mir ein, werden Berlin vor der Versteinerung, der Verrottung retten. So erwachte ein neues Gefühl in mir, zum ersten Mal in sechs Jahren: Ich liebte sie, diese verdammte Stadt!
Gerade als ich diesen unerhörten Gedanken aussprechen wollte, nach passenden Worten suchend, fragte Catherine:
- Hat sie denen nicht auch Munition geliefert?
Ich begriff nicht sofort, dass sie Anneliese Groscurth meinte.
- Natürlich hat sie das, aber da diese Beamten und Richter ihr sowieso aus allem einen Strick gedreht haben, spielt das fast keine Rolle. Außerdem, sie hat dem Senat viel weniger Munition geliefert, als wir heute dem Senat liefern mit den Protesten. Der Unterschied ist nur: Es waren härtere Zeiten und sie war allein. Natürlich hat sie mit der DDR sympathisiert, aber extrem maßvoll.
- Ich meine, hat sie was falsch gemacht, aus deiner Sicht?
- Nichts, sagte ich, fast nichts. Sie war wie Millionen andere gegen die Wiederbewaffnung - und eine der Ersten, die dafür mit Berufsverbot bezahlt haben. Auch sonst war sie ihrer Zeit einfach zu weit voraus. Was für uns der 2. Juni ist, war für sie der 15. August: Wenn die Polizei sich kriminell verhält, muss man wenigstens Untersuchungen anstellen, das hat man an der FU nach dem Tod von Ohnesorg auch getan. Der Groscurth-Ausschuss war leider gesteuert, das war ihr Pech. Dann ist sie 1952 in Polen gewesen, in Auschwitz, hat mit Angehörigen der Opfer gesprochen, das hat man ihr auf die hämischste Art vorgeworfen, auch da hat sie zu früh das Richtige getan. Ein Vorgriff auf die Ostpolitik, wenn du so willst. Und wer hat schon in den fünfziger Jahren darauf bestanden wie sie, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht Ja-Sagen heißt, sondern: kritische, abweichende Meinungen äußern dürfen? Das müssen wir der Mehrheit heute immer noch beibringen. Schließlich hat sie, notgedrungen, in Ost und West praktiziert, also etwas getan für die innere Einheit, was jeder Sonntagsredner fordert.
Catherine sah mich skeptisch an.
- Ja, da sind die Propagandaschriften des Groscurth-Aus-schusses, furchtbares Zeug, ich weiß, aber die westlichen Propagandaschriften hatten den gleichen Stil, einseitig, schwarzweiß, voll Häme und Hass. Gelogen wurde auf beiden Seiten, im Osten mehr, im Westen weniger. Außerdem, ihr war die konkrete Rechtshilfe wichtiger als die Sprache von Broschüren. Wenn ich sage: fast nichts falsch gemacht, denk ich an die Kandidatur für das Berliner Abgeordnetenhaus, das hab ich noch nicht erzählt, im Dezember 1954, auf der Liste der SED, bei der sie kein Mitglied war, auf einem unteren Listenplatz als Opfer des Faschismus. Nicht schön, gerade anderthalb Jahre nach dem 17. Juni, sie wollte, sagte sie, da mit ihrer Wahl sowieso nicht zu rechnen war, nur ein Zeichen setzen, dass es die Opfer des Faschismus noch gibt- gegen die Nazis bei CDU und FDP, außerdem fänden sich im Programm der SED West keine verfassungsfeindlichen Ziele, sie habe auch nie eine Rede für diese Partei gehalten. Da solltest du nachsichtig sein, sagte ich, wer jahrelang, was später bekannt wurde, Opfer eines so genannten Kampfbundes gegen Unmenschlichkeit war, mit Terroranrufen, Beschimpfungen und gezielten Lügen...
- Ist schon gut, sagte Catherine.
Das letzte Stück war steil, der Schnee härter gefroren und glatter, wir rutschten und gelangten nur mit kleinen Schritten quer zum Hang nach oben. Auf der Kuppe angekommen, blickten wir zum anderen Gipfel des Teufelsbergs hinüber, wo immer noch Schutt angekarrt wurde. Der Wind war schwach, die Kälte gut auszuhalten. Wir waren fast die
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