Mein Jahr als Mörder
1957 beim Landgericht Berlin gegen das Land Berlin, vertreten durch den Senator für Inneres, vertreten durch den Direktor des Entschädigungsamtes. Wieder die Hydra Demokratie lehren: Ein Widerspruch gegen das Regierungsprogramm der Bundesregierung stellt noch keine verfassungsfeindliche Tätigkeit dar. Eine Ansicht, ein Gesetz oder eine Anordnung behördlicher Organisationen zu kritisieren ist Vorrecht und Pflicht eines jeden Bürgers. Insbesondere zu einer so wichtigen lebensentscheidenden Frage wie der Militarisierung Deutschlands. Wieder die Namen derer nennen, die seinerzeit der gleichen Meinung waren. Wieder auf Gerichte verweisen, die, sogar in Berlin, Anhänger der Volksbefragung freigesprochen haben. Wieder die Hydra bitten zu begreifen, dass der Ärztin jede verfassungsfeindliche Bestrebung fremd ist und dass sie nie die Absicht gehabt hat, einer Gewaltherrschaft Vorschub zu leisten.
Die für Entschädigung zuständige Hydra ist nicht faul und verdoppelt, verdreifacht den Giftatem: Frau Groscurth hätte mit der Volksbefragung den Bundestag und die Regierung nötigen wollen und damit gegen das Grundgesetz verstoßen. Die Hydra beruft sich, um sie zum Schweigen zu bringen, auf das von der Landesarbeitsgerichts-Hydra gefertigte Urteil. Und schlägt ihr die Vorwürfe, Verdrehungen und Lügen der Polizei-Hydra über den Groscurth-Ausschuss um die Ohren, ein wichtiges Mittel zur kommunistischen Zersetzungsarbeit.
Sie kann das alles nicht mehr lesen, nicht mehr hören, sie gibt, um endlich verstanden zu werden, eine Erklärung ab, die ich heute den Groscurth'schen Imperativ nennen würde:
Wenn ich meine Patienten übersehe, so brauchen über die Hälfte von ihnen meine ärztliche Hilfe, weil sie an den Folgen des Krieges leiden und mit diesen körperlich und seelisch nicht fertig werden. Es kann aber und darf in Zukunft nicht Aufgabe der Ärzte sein, ständig vordringlich die gesundheitlichen Schäden, die durch Kriegseinwirkungen entstanden sind, zu beseitigen. Wir wissen, daß es auf der Welt noch so viel nicht durch Menschenhand entstandenes Leid zu verhüten und zu bekämpfen gibt, ich denke an das Krebsproblem, Seuchen u. ä. Hier wollen wir uns einsetzen. Diese Arbeit ist aber nur möglich, wenn Frieden ist, und daß dieser Frieden erhalten bleibt, daran muß sich der Arzt aktiv beteiligen.
Das Weinen der Mütter beim Anblick der Panzer
Was für eine Überraschung, als ein dicker Brief von meiner Mutter eintraf, es muss im März gewesen sein. Auf meine Frage während der Weihnachtstage nach Frau Groscurth habe sie in den Schubladen gekramt und Aufzeichnungen von März, April 1945 aus Wehrda gefunden und alles abgetippt. Nur einmal habe sie eine Art Tagebuch geführt, damals, als der Krieg zu Ende ging und die Amerikaner kamen, da stehe auch was über Frau Groscurth. Aber es ist mir auch etwas peinlich, schrieb sie, was ich dir da gebe, ich war halt sehr jung.
Acht eng beschriebene Seiten, ich las sie sofort.
«30.3.45. Karfreitag. Morgens mußte der Volkssturm antreten und abmarschieren. Sie sind nach Eisenach beordert. Ein schwerer Abschied! - Gottesdienst noch ungestört. Hinterher schmückten die Konfirmanden die Kirche für die Konfirmation am Ostersonntag. Die Kirche sieht wirklich sehr schön aus. Nur die Girlanden fehlen noch. Und auf den Altar kommt noch die weiße Decke und die Blumen. Aber das wollen wir erst morgen machen. - Nachmittags um Vi 3 Uhr sehe ich den Volkssturm nach Hause kommen und höre gleich darauf, daß angeblich in 3 Stunden die erste Panzerspitze hier ankommen soll. Ob es stimmt? Auf alle Fälle sehe ich noch mal mein Marschgepäck nach. Man hört Fliegerbrummen und Schießen. Ich gehe zu den Kindern und sage mir, daß ich ja unmöglich mit dem Baby und dem kranken Kind in den Wald fliehen kann, wenn es sein sollte und befohlen würde. So bleibt mir nichts anderes, als uns Gott zu befehlen. Wir stehen in Seiner Hand. Er möge uns all unsere Schuld vergeben, Jesus starb ja deshalb für uns, und möge uns, wenn es Sein Wille ist, noch heute in Sein Reich nehmen! - Der Große möchte die Bilderbibel ansehen. Das ist mir sehr recht und ich setze mich zu ihm. Auf einmal höre ich ganz, ganz tief über uns Flieger brummen und ein Knattern und Getöse auf der Straße. Nach einer Weile gehe ich ans Fenster, um zu sehen, was da los ist. Da sehe ich aus der Richtung Langenschwarz einen Panzer nach dem ändern kommen. Da natürlich jeder Widerstand von uns hier Wahnsinn wäre, ist
Weitere Kostenlose Bücher