Mein Jahr als Mörder
Heute laufen die Hoch-Verräter frei herum. Heute ...
Und an der Tür:
- Hat mich gefreut. Auf Wiedersehen!
Was wäre der richtige Moment für den Schuss gewesen?, fragte ich mich, als ich erwacht war, eine Woche vor meinem Ortstermin in Schleswig. Hatte ich wirklich kein Wort gesagt?
Im Westen kenn ich meine Feinde
Zum Beispiel am Sophie-Charlotte-Platz, an einem beliebigen Werktag in den fünfziger Jahren, sagen wir Herbst 1957: Im Gedrängel der Menschen, die am frühen Nachmittag die Treppen aus dem Halbdunkel des U-Bahnhofs zur Suarez-straße hinaufsteigen, eine große, schlanke Frau, mit Brille, dunkel und grau gekleidet wie alle, man könnte sie für eine Grundschullehrerin halten. Dreimal in der Woche, zwischen eins und drei, sieht man sie hier, wie sie sich von der Treppe zum Bürgersteig des Kaiserdamms wendet, ähnlich blass und erschöpft wie die ändern Leute. Außer einer vollen Einkaufstasche, billiges Kunstleder, und einem karierten Stoffbeutel, ebenfalls gefüllt, fällt nichts an ihr auf.
Anneliese Groscurth achtet darauf, die Taschen nicht zu voll zu laden. Sie schleppt Lebensmittel, das soll niemand merken. Noch weniger möchte sie Aufsehen erregen als eine, die mit ihrer Last nicht vom Kurfürstendamm, sondern weither aus dem russischen, dort so genannten demokratischen Sektor kommt, von der Arbeit in der Nalepastraße in Schöneweide, vom Einkäufen am Alexanderplatz und in der Karl-Marx-Allee. Das ist legal, das ist ihr weder im Osten noch im Westen verboten und fast ein Verbrechen, mit der knisternden Schande des Verrats behaftet. Sie muss nicht mehr fürchten, gelyncht zu werden, aber sie bleibt allergisch gegen scheele Blicke, Pöbel eien, Verdacht, Denunzierung, Verhöre, das hat sie zu oft erlebt. Sie will in Charlottenburg nicht mit Ost-Konserven beobachtet werden, selbst Gläser mit Spreewälder Gurken sind hier tabu.
Seit 1953 läuft sie dreimal in der Woche mit vollen Taschen von der U-Bahn den Kaiserdamm hinauf, fünf Minuten bis zum Haus an der Ecke Lietzensee und hoch in den zweiten Stock. Viele Jahre nimmt ihr niemand die Last ab, Lebensmittel mit S-Bahn und U-Bahn durch die halbe Stadt und zwei verfeindete Staaten zu schleppen.
- Warum der Umstand?, fragte Catherine. Warum kaufte sie nicht gegenüber bei Bolle oder sonst wo?
- Von dem Geld, das die Praxis ab warf, konnte sie die Miete und Versicherungen bezahlen, Brötchen und Milch, aber nicht mehr.
- Eine praktische Ärztin?
- Eine Ärztin, die als Kommunistin verschrien ist und von der Presse bei jedem neuen Prozess als rote Propagandistin denunziert wird, bei der drängeln sich keine Privatpatienten. Und vergiss nicht, die Schulden bei den Anwälten.
- Aber als Kassenärztin musst du doch nicht verhungern?
- Ihr Problem ist, schnöde gesagt, ihre Aufrichtigkeit. Sie rechnet nur Leistungen ab, die sie für notwendig hält und hundertprozentig erbracht hat. Sie verachtet Ärzte, die beim Abrechnen kreativer sind als beim Therapieren. Aus Protest gegen die offene Geldschneiderei vieler Kollegen rechnet sie, stur, wie sie ist, lieber zu wenig ab. Hausbesuche, auch mitten in der Nacht, sind für sie so selbstverständlich, dass sie dafür keine Zulagen will. Als sie noch kein Auto hatte und nachts für die weiteren Strecken Taxen nehmen musste, waren die Taxikosten oft höher als die Einnahmen. Sie wirkt fast zu gut, aber so ist sie. Und wenn jemand sie ermuntern will, weniger restriktiv zu sein beim Abrechnen, wird sie wütend: Mit mir nicht! Ich bin keine Unternehmerin!
- Durfte man so einfach Lebensmittel von Ost nach West schaffen?
- So einfach nicht. In den frühen fünfziger Jahren hatten die Westberliner zu Tausenden die billigen Lebensmittel, durch den Umtauschkurs vier Ostmark gegen eine D-Mark nochmal verbilligt, aus den Ostläden mit diebischem Vergnügen weggekauft, Fleisch, Wurst, Käse, Konserven, Brot, Gebäck, Schnaps. Also waren die Läden leer und die Leute sauer. Dann wurde das verboten. Westberliner, die im Osten arbeiteten, bekamen eine Einkaufskarte. Da das Geld im Westen nichts wert war, das sie im Osten verdienten, waren sie auf die Einkäufe angewiesen und schleppten die Naturalien, an der Grenze kontrolliert, in den Westen. Es gab viele Grenzgänger, die im Westen lebten und im Osten arbeiteten, umgekehrt noch mehr. Sie waren drei Ärzte aus dem Westen, die eine Halbtagsstelle in der Poliklinik des Rundfunks hatten. Das Geld musste drüben ausgegeben werden. Ihr einziger Luxus waren
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