Mein Jahr als Mörder
maßgefertigte Kleider von einem Schneider Unter den Linden.
- Und die Ostberliner Polizei?
- Die achtete auf Leute mit auffälligem Handgepäck, Flüchtlinge.
- Und die Westberliner Polizei?
- Die haben fleißig registriert, wer regelmäßig über die Grenze ging und wer die Taschen voll hatte. Sie hatten was gegen Propagandaschriften, aber nichts gegen Schweinefleisch und Letscho aus Ungarn. Erst seit dem Mauerbau fällt Frau Groscurth richtig auf unter den wenigen Westbürgern, die, aus welchen Motiven auch immer, die Spaltung nicht mitmachen, verdächtige Sonderlinge.
- So hat sie ihr Schicksal getragen, buchstäblich?
- 1959 bekam sie von ihrer Mutter ein Auto geschenkt, einen DKW mit Halbautomatik, weil sie einen Horror vor dem Kuppeln und Schalten hatte. Mit einem Passierschein für die Invalidenstraße braucht sie sich nicht mehr mit den vollen Taschen in die Bahnen zu quetschen. Allmählich hat sie auch in Charlottenburg besser verdient und muss nicht mehr alles, was auf den Küchentisch kommt, aus dem Osten beschaffen. Es ist noch nicht lange her, als zum ersten Mal neue westliche Gerichte gekauft und wie eine Delikatesse zelebriert wurden: zum Beispiel eine Büchse Ravioli.
- Was ich immer noch nicht verstehe, Catherine ließ nicht locker, warum ist sie nicht einfach drüben geblieben? Ohne Prozesse, ohne Demütigungen, ohne die Schlepperei? Die hätten ihr doch eine gute Stelle verschafft?
- Sozialismus ist schön, aber ihn aufzubauen ist fürchterlich, hat einer ihrer Freunde gesagt, ein westlicher Arzt, der ebenfalls im Osten praktizierte.
- Also nie eine Kommunistin?
- Nicht mal eine bürgerliche Edelkommunistin. Nie Marx gelesen. Höchstens ein wenig Bloch, mit Ernst und vor allem Carola Bloch war sie gut befreundet seit gemeinsamen Ferien im Erzgebirge Anfang der Fünfziger. Eine Familienfreundschaft, man tauschte Bücher und Ansichten, sie hielt erst recht zu den Blochs, als die im Westen blieben.
- Also keine Versuchung, es sich in der DDR bequem zu machen?
- Sie liebt die Freiheit! Und Ravioli. Das Prinzip Hoffnung. Und das Auto mit Halbautomatik. Über das Thema Umzug wurde gesprochen, wenn Rolf oder Axel es wieder mit Lehrern zu tun hatten, die Spaß daran fanden, die Kinder einer Kommunistin zu schikanieren. Nein, sie hat das, soweit ich weiß, nie ernsthaft erwogen. Sie hatte die Intuition, schätze ich, sich den inneren Konflikten der DDR und dem Druck zu fragwürdiger Parteinahme besser nicht auszusetzen. Abgesehen von den Verwandten und Freunden im Westen, sie ist allmählich auch politikmüde, prozessmüde, kampfesmüde geworden. Sie ahnt, dass ihre Idee von Pazifismus auch in der DDR nicht viel gilt. Und jetzt kriegt sie mit, wie der Staat mit ihrem Freund Havemann umspringt. Gern zitiert sie den Spruch: Im Westen kenn ich meine Feinde. Und vergiss nicht ihre preußische Ader. Antifaschismus plus Antimilitarismus plus Hippokrates, das reicht als Programm.
- Aber warum kuriert sie heute immer noch die Leute, die Propaganda verbreiten?
- Nicht nur die. Als Ärztin hast du eine andere Moral. Sie hätte das heute wahrscheinlich nicht mehr nötig. Es wird der Dank für die Rettung sein. Als es ihr am dreckigsten ging, hat man ihr die Stelle beim Sender in der Masurenallee beschafft. Als der Sender umzog in den Osten, blieb sie den Rettern treu. Als die Mauer gebaut wurde, erst recht. Die Schwachen, auch wenn es ein schwacher Staat ist, lässt man nicht im Stich. Und jetzt, wo Havemann sich vom hundertprozentigen Stalinisten zum hundertprozentigen Dissidenten gewandelt hat, bleibt sie bei ihrem Grundsatz: Das ist alles nicht gut, aber immerhin regiert in der DDR kein Kiesinger. Sie fährt wie immer Richtung Invalidenstraße und Nalepastraße: Patienten lässt man nicht im Stich.
Als wir solche halbklugen Gespräche führten, ahnten Catherine und ich nicht, dass Frau Groscurth in all den Jahren mehr Geld hätte haben können, wenn sie beteiligt worden wäre an den Einnahmen der Medikamente, die ihr Mann entwickelt oder verbessert hat. Zum Beispiel das Katalysin. Oder das Euphyllin, ein Medikament gegen akute Asthmaanfälle, das jeder Arzt kennt und das bis heute weit verbreitet ist, das der Pharmafabrikant Grüter erfunden und mit Groscurth verbessert hat. Wenigstens dieser Partner hätte die Witwe bedenken können, wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre. Aber was geht schon mit rechten Dingen zu.
Die Sache muss ein Ende haben
Anneliese Groscurth muss nicht ins Gefängnis,
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