Mein Jakobsweg
ihresgleichen sucht.
Ihre Aura möchte ich festhalten und nie mehr missen. Ihr genauer Ursprung und Zweck sind nicht eindeutig geklärt; fest steht nur, dass sie etwa im zwölften Jahrhundert im romanischen Stil erbaut wurde. Aber ist das nicht unwichtig, angesichts dieser Harmonie? Reicht es nicht aus, wenn dieser heilige Ort ohne Wenn und Aber nur für sich selbst spricht?
Nun bin ich in Obanos, einem kleinen Ort, der ein wenig abseits liegt. Das heißt, abseits ist er nur für Pilger, die auf der Landstraße gehen und zwangsläufig die Eunate oder auch Obanos verpassen. Mir scheint, als seien das nicht gerade wenige. Erstaunlich, denn schließlich treffen sich hier die beiden großen von Frankreich herkommenden Pilgerwege. Allgemein gilt jedoch Puente la Reina, das ein paar Kilometer entfernt liegt, als Knotenpunkt der beiden Wege. Puente la Reina hat allerdings auch den zweifelhaften Ruhm, dass es die einzige Herberge auf dem Jakobsweg mit dreistöckigen Betten hat. Obanos hingegen hat neben gepflegten Unterkünften noch sehr viel mehr zu bieten. Sogar die Kirche ist tagsüber für uns Pilger geöffnet. In jedem zweiten Jahr verwandelt sich Obanos in eine mittelalterliche Stadt, in der die Bewohner ein immer wieder neu inszeniertes historisches Schauspiel darbieten. Leider findet es erst im Juli statt, sodass ich nicht dabei sein kann. Aber wer weiß - vielleicht werde ich rechtzeitig wieder hier vorbeipilgern?
Eine intensive Begegnung
Fast hätten wir uns gegenseitig umgerannt, als wir das Gasthaus betreten. Wir sind uns auf Anhieb sympathisch und setzen uns an einen Tisch. Mit etwas Geplänkel, dem Bestellen von Essen und dem ersten Schluck Rotwein erfahre ich, dass sie Psychologin ist, in Frankfurt wohnt und vor zehn Jahren schon einmal nach Santiago gepilgert ist.
Ich heiße Ulla, sagt sie.
Und ich bin die Elke.
Danach sind wir mit dem Essen beschäftigt, reden wenig, die Flasche aber neigt sich dem Ende zu.
Viel zu wenig Wein heute.
Wir bestellen eine neue, während sie von ihrer Arbeit berichtet, vornehmlich mit Jugendlichen.
Eine äußerst schwierige Arbeit, bemerke ich und konzentriere mich auf das, was sie zu sagen hat. Später erzähle ich von Michael. Sie sagt: Über so einen ähnlichen Fall habe ich mal ein Buch gelesen. Typisch ADHS, habe sie damals gleich gedacht. Heute sei man ja viel weiter.
Dieses Buch, sage ich, ist von mir, und das Kind ist mein Sohn. Ich erzähle von seinem tragischen Ende.
Ulla hört aufmerksam zu. Das Schlimmste ist, sagt sie schließlich, dass bei ihm die soziale Komponente nicht ausgebildet war. Das wirke sich absolut verheerend auf das Kind und das gesamte Umfeld aus.
Sogleich fällt mir die Szene ein, die mir neben vielen unsäglichen Geschehnissen stets präsent geblieben ist. Ich sollte Michael in die psychiatrische Klinik zurückbringen. Dort war er, um ihn nach seiner Flucht aus der Bundeswehr vor einer Gefängnisstrafe zu schützen. Bisher hatte er sich in der Klinik gut gefühlt und sich bereitwillig eingebracht.
An diesem Wochenende war er bei uns gewesen. Mit frischer Wäsche, und was man sonst so mitgibt, wollten wir gerade die Wohnung verlassen. Da sagte Michael: Du, Mama, ich hab bei einem Kumpel die Schlüssel vergessen. Ich hol sie eben schnell, der wohnt gleich um die Ecke.
Ehe ich reagieren konnte, war er weg. Komm sofort wieder, rief ich ihm noch nach.
Eine Stunde verging, er hätte längst in der Klinik sein müssen. Ich begann ihn zu suchen. In meiner Verzweiflung störte ich sogar Andreas während einer Schulstunde und fragte ihn, wo ich noch suchen könnte.
Hier um die Ecke stehen auch Bänke, warst du da schon?
Ich war überall in der Fußgängerzone gewesen. Aber wenn da noch irgendwo Bänke standen... Ich machte mich auf den Weg.
Tatsächlich. Da war er! Mit einem älteren, etwas heruntergekommenen Mann. Einem Penner, müsste ich eigentlich sagen, möchte ihm aber nicht zu nahe treten.
Zwischen sich hatten die beiden Männer eine ganze Lage Dosenbier. Viele schöne, silberne, im Sonnenlicht glitzernde Dosen. Aber das Fantastische war: Diese Dosen, die da in der strahlenden Morgensonne standen, waren alle noch voll. Daneben saß mein Sohn in völlig entspannter Haltung. So glücklich hatte ich ihn selten gesehen. Zumindest nicht mehr, seit er den Kinderschuhen entwachsen war. Neben ihm der Penner wirkte überhaupt nicht störend. Vielmehr fügte er sich harmonisch ein in dieses Bild, als gehöre er dahin.
Das ist die
Weitere Kostenlose Bücher