Mein Jakobsweg
Welt deines Sohnes.
Wie ein Blitz traf mich diese Erkenntnis.
Diese Szene wird immer in meinem Gedächtnis bleiben, sosehr ich sie auch auszulöschen versuche und mich dieser Erkenntnis erwehren will, die mich damals für Sekunden ergriffen hat.
Ich habe schon immer anders gedacht als ihr, hatte Michael bei seinem letzten Besuch gesagt. Ich lebe auf der Straße. Das ist mein Leben.
Diese Szene war der Beweis dafür, dass er das wirklich so meinte. Nicht als Provokation, sondern weil er nicht anders konnte.
Siehst du, das meine ich, sagt Ulla nachdenklich. Du hast ja schon immer gewusst, dass mit deinem Sohn etwas nicht stimmt. Das weiß eine Mutter. Nur die Ärzte haben sich nicht rangetraut. Heute kann man die Gene bestimmen und den Stoffwechsel beeinflussen. Heute wäre es, wenn eine Mutter so hartnäckig bleibt, nicht mehr möglich, dass eine solche ADHS nicht diagnostiziert wird.
»Die Auswirkungen einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) kann man sich nicht vorstellen - man muss sie erleben!«, lautet die Aussage einer Ärztin und betroffenen Mutter in dem Sachbuch »ADHS kontrovers« von Gerhild Drüe. Ulla kennt auch dieses sehr kompetente Buch. Mein Buch über Michael wird darin mehrere Seiten lang zitiert. Doch dass es ADHS war, woran Michael litt, erfuhren wir erst, als es zu spät war.
Das Lokal ist leer, der Wirt wischt die Tische und rückt die Stühle zurecht. Wir haben die Zeit vergessen, nichts ist uns wichtiger gewesen als unser Gespräch.
Ob meine Herberge noch offen ist? Mitternacht ist vorüber, das Tor ist zu.
Macht nichts, sagt Ulla, in meinem Zimmer stehen noch zwei Betten.
Bis zu ihrer Pension ist es nicht weit. Wir schleichen über eine Treppe, durch einen langen Flur, und wie zwei Teenager kriechen wir kichernd unter die Bettdecke.
Von Obanos nach Logroño
Lass den Abend die Fehler des Tages verzeihen
und damit Träume gewinnen für die Nacht.
Rabindranath Tagore
M orgens um fünf klingelt Ullas Wecker. Sie geht längere Strecken und muss weiter.
Buen Camino, Ulla, ich danke dir für diesen Abend. Meine Herberge ist offen. Ich mache mich etwas frisch, und dann kann’s losgehen.
Ich bin noch etwas benommen von dem Wein, doch das Gespräch mit Ulla hat mich sehr glücklich gemacht. Ich weiß jetzt, ich bin nicht allein, und fühle mich bestärkt in dem Wissen, dass mein Kind nicht aus purer Boshaftigkeit wider jede Vernunft handelte; dass er einen anderen Weg gewählt hätte, wenn ihm dies möglich gewesen wäre.
Als ich auf der Puente la Reina den Rio Arga überquere, kommt die Sonne hervor. Diese alten steinernen Brücken haben etwas Zauberhaftes, aber durchaus auch eine existenzielle Symbolkraft. Schließlich war es in Zeiten ohne Brücken äußerst schwierig und nicht selten lebensgefährlich, über oder vielmehr durch einen Fluss zu gelangen. Zudem musste man dem Menschen, mit dem man einen Fluss durchquerte, absolut vertrauen können. »Gehst du mit mir über?«, ist bei uns am Niederrhein mancherorts noch heute eine beliebte Redewendung. Einen Moment lang bleibe ich am Fluss stehen und ziehe gleich in der ersten Morgensonne die Jacke aus. Ein heißer Tag erwartet mich.
Nur wenige Menschen sind unterwegs, wohl zur Arbeit. In einer Bäckerei kaufe ich Brot und süßen Kuchen. Während ich weitergehe, esse ich von dem Brot, das noch warm ist. Nicht einmal zehn Kilometer habe ich geschafft, da ist mein Wasser alle. Mañeru heißt der Ort, in dem ich einen Laden suche, um mir eine große Flasche Orangensaft zu kaufen. Ich trinke sie gleich dort auf der schattigen Treppe leer.
Es ist noch nicht einmal Mittag. Aber ich sehe kein Weiterkommen, jedenfalls nicht zu Fuß. Ein Bus wäre die Rettung. Ich frage in dem Laden. Der Sohn bringt mich zur Haltestelle. Von ihm lerne ich, dass man im Wartehäuschen zu stehen hat, gleichgültig auf welcher Straßenseite der Bus halten wird.
Dann folgt eine große Überraschung. In diesem Bus treffe ich all meine spanischen Freunde. Wo ich gestern Abend gewesen sei, weshalb ich nicht gewartet hätte, werde ich gefragt.
Ich wollte in Estella übernachten, sie aber fahren bis Logroño. Ich lese in meinem Buch nach, wie weit das ist, und frage, weshalb sie so eine lange Strecke fahren.
Elke, finito, we must work next day. Maria spricht etwas Englisch.
Ob ich mit ihnen fahren soll? Noch zögere ich. Aber dann höre ich ein leises Flüstern, das mir sagt: Logroño is near Santiago.
Suchend schaue ich
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