Mein Leben bei al-Qaida - Nasiri, O: Mein Leben bei al-Qaida - Inside the Jihad. My Life with Al-Qaida. A Spy's Story
die Paranoia in ihren Augen. Natürlich gab es im Lager keine Drogen, aber vielleicht durfte er Nescafé trinken, um seine Entzugserscheinungen zu mildern.
Ob ich damit Recht hatte oder nicht, es war auf jeden Fall ersichtlich, dass Abdul Kerim die normalen Lagerregeln nicht unbedingt einzuhalten brauchte. Die wilden Umschwünge in seiner Sprechweise, die zittrigen Bewegungen, die schnellen Stimmungswechsel und diese Menge an Informationen, die er unaufgefordert preisgab – ein anderer Bruder wäre nur für eines dieser Merkmale schon längst aus dem Lager gejagt worden.
Obwohl es noch eine ganze Weile dauern würde, bis ich die Gründe verstand, war es mir doch bereits zu diesem frühen Zeitpunkt klar, dass Abdul Kerim ein sehr wichtiger Mann sein musste. Es musste einen Grund geben, warum sie ihn weiter im Lager bleiben ließen.
An diesem und den folgenden Tagen sollte ich noch mehr über Abdul Kerim erfahren. Meist sprach er über die GIA. Wie die französische Sprache war das etwas, das wir beide gemeinsam hatten.
Er erzählte mir, dass er eine Frau in Frankreich habe. Allerdings sei er dabei, sich von ihr scheiden zu lassen, weil sie nicht fromm genug sei. Aber sie hätten auch eine kleine Tochter, die seine Frau bei der Trennung mitgenommen habe. Er wolle seine Tochter zurückhaben, damit er sie als echte Muslimin aufziehen könne.
Später begann er dann auch, mehr über Politik zu sprechen. Mir wurde klar, dass er ein echter Extremist war.
„Inshallah“, pflegte er zu sagen, „eines Tages wird ganz Frankreich muslimisch sein.“Und danach ganz Europa. Die kaffir - die Ungläubigen – würden vom ganzen Kontinent vertrieben werden.
Eines Tages sprachen wir über die Razzien in Europa. Ich wollte unbedingt herausfinden, was er darüber wusste, aber ich konnte ihn natürlich nicht offen danach fragen. Aber bei Abdul Kerim war das auch nicht nötig. Er fing ganz allein davon an. Er schwadronierte, wie schrecklich und unfair diese Razzien gewesen seien. Ich stimmte ihm bei und nickte voller Mitgefühl. Ich erzählte ihm von meiner eigenen Erfahrung, dass sie in das Haus meiner Mutter eingedrungen seien, meinen Bruder mitgenommen hätten und versucht hätten, auch mich zu verhaften.
Dann stellte ich ihm mit Unschuldsmiene eine Frage:
„Wer hat wohl der Polizei den Tipp gegeben? Hast du eine Ahnung? “
Vielleicht hätte ich doch noch Angst bekommen, wenn ich auf seine Antwort hätte warten müssen. Aber das war nicht der Fall. Abdul Kerim nannte mir sofort den Namen eines Frankoalgeriers, den ich noch nie gehört hatte. Das war für mich eine riesige Erleichterung. Vielleicht konnte ich mich nun doch etwas sicherer fühlen.
Mit der Zeit wurden Abdul Kerim und ich sogar so etwas wie Freunde. Wir saßen oft zusammen, unterhielten uns auf Französisch und tranken Kaffee. Auch für mich war es schön, jemanden zu haben, der meine Muttersprache sprach und der die Welt verstand, aus der ich stammte.
Eines Abends saßen wir wieder neben der Moschee. Wir durften uns nur dann treffen, wenn niemand anderer in der Nähe war, damit niemand mitbekam, wie wir unseren Nescafé tranken.
Plötzlich hörten wir ein lautes Geräusch. Es kam von der Funkstation, einem kleinen Gebäude neben der Kantine, in dem sich der Emir und die Ausbilder jeden Abend trafen.
Bamm.
Wir standen beide auf und sahen, wie jemand mit der Kalaschnikow in die Luft schoss. Bamm-bamm-bamm-bamm. Jetzt feuerten mehrere Gewehre gleichzeitig, und man konnte Leute feiern hören. Plötzlich hörten wir Schritte auf uns zukommen, und aus dem Dunkel tauchte ein Ausbilder auf.
„Schaltet das Radio ein“, sagte er. „In Paris hat es einen Anschlag gegeben.“
Wir machten das Radio an, und wir hörten auf RFI, dem französischen Auslandssender, die ersten Berichte. Vor knapp einer Stunde war eine Bombe in einem Vorortzug im Bahnhof Saint-Michel in der Nähe der Kathedrale Notre-Dame hochgegangen. Die ersten Todesfälle waren bestätigt, weitere waren zu erwarten. Außerdem gab es Hunderte von Verletzten. Zum Schluss hieß es dann noch, dass am Ort des Anschlags ein einziges Chaos herrsche.
Inzwischen hatten auch andere das Gewehrfeuer gehört und sich zu uns gesellt. Wir feierten jetzt alle auf dem Platz vor der Moschee. Niemand erwähnte die GIA. Das war auch nicht nötig. Jeder wusste sofort, dass sie für diesen Anschlag verantwortlich war.
Abdul Kerim strahlte über das ganze Gesicht. „Masha’allah!“, jubelte er. „Toute la
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