Mein Leben in 80 B
gruseliger als ein Buch von Stephen King. «Ohne zu wissen, wohin, und ohne jemanden zu kennen, bei dem du arbeiten oder wohnen konntest?»
«Wenn man kochen kann, kommt man überall unter. Ich bin zuerst nach Amerika, das Geld für den Flug und ein paar hundert Dollar hat mein Onkel mir gegeben.» Offensichtlich erinnerte er sich gern an diese Zeit, denn wieder stahl sich dieses bezaubernde Lächeln auf sein Gesicht. «Da habe ich mich dann durchgeschlagen. Bin in Restaurants gegangen, die mit deutscher Küche warben, und habe denen gezeigt, wie man richtig Sauerkraut macht. Dafür bekam ich kleinere Jobs und konnte in der Küche neue Gewürze oder Zutaten kennenlernen.» Er lachte. «Ich hab auch Hotelzimmer geputzt oder auf die Kinder der Köche aufgepasst. Einen Platz zum Schlafen und genug zu essen hatte ich immer. Sobald ich genug gespart hatte, bin ich in das nächste Land weitergezogen. Wenn man unabhängig ist und ein Ziel vor Augen hat, ist es nicht so schwierig, weit herumzukommen.»
Wahnsinn. Dieser Typ hatte etwa hundertmal so viel von der Welt gesehen wie ich. Und das, obwohl ich viel mehr Lebensjahre hinter mir hatte. Mir war vor geplanten langen Reisen immer etwas dazwischengekommen: eine Liebe, eine Hochzeit, eine Kampagne, die mein Mann unbedingt zuerst noch beenden musste, oder eine Schwangerschaft. Oke hatte auf äußere Zwänge und Familienbande einfach gepfiffen und sich darauf konzentriert, Erfahrungen zu sammeln, die ihm jetzt nützlich waren. Einen schmerzlichen Moment lang wurde mir bewusst, dass ich vielleicht genauso viel zu erzählen gehabt hätte, wenn ich meine Fotografenlaufbahn weiter verfolgt hätte. Es war lange her, dass ich mit jemandem ein so anregendes Gespräch geführt hatte. Und die mit-Basilikum- und ohne-Basilikum-Getränke hatten inzwischen fast alle meine Hemmungen weggeschwemmt.
«Lass uns ein Spiel spielen.»
Oke machte ein fragendes Gesicht und rutschte noch näher an mich heran, vielleicht, weil die Musik wieder lauter geworden war.
Ich wünschte mir ein bisschen Studentenzeit-Revival. «Das Spiel geht so: Ich stelle eine Frage, die unser Leben betrifft, und wir sagen dann beide, was uns dazu einfällt.» Dieses Psychospiel hatten Elissa und ich mit Freunden nächtelang gespielt, um herauszufinden, wie sie tickten, für was sie brannten und welche Charakterzüge bereits in jungen Jahren auf späteres Spießertum und Unglück hindeuteten.
«Bereit?»
Er nickte.
Jetzt kam es auf die richtigen Fragen an. «Okay. Lass mich überlegen. Also. Weihnachten. Zündest du an den Sonntagen bei deinem Adventskranz alle vier Kerzen abwechselnd an, damit sie gleichmäßig herunterbrennen, oder eine nach der anderen?»
Er sah mich verständnislos an. «Ich habe gar keinen Kranz zu Hause. Dieses ganze Weihnachtszeug sehe ich genug hier im Restaurant. Wenn ich zu Hause bin, penn ich, da hab ich die Augen eh zu.»
«Aber wenn du einen hättest? Ich tausche die Kerzen lieber aus, wenn sie heruntergebrannt sind.» Genau darüber hatte ich mit Toni an unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest diskutiert. Toni fand mich spießig und bescheuert wegen meiner Kerzen-anzünden-und-nicht-anzünden-Marotte, gab sich dann aber geschlagen. Darin war der Koch ihm ähnlich.
«Jaaaaa – stimmt. Würde ich wohl auch so machen.» Schien so, als hätte er den tieferen Sinn dieses Quiz noch nicht erfasst. Oder er fand die Frage behämmert. Vielleicht musste Oke mehr von diesem grünen Zeug trinken.
Ich kramte nach der nächsten Frage. «Deine Lieblingsband?»
«Ach, das wechselt ständig.»
«Na dann: Welcher Song ist für dich der absolute Lovesong? Meiner ist
I’d Rather Dance With You
von den
Kings Of Convenience
.»
«Ahh, hab ich schon mal gehört:
Let your hips do the talking
», sang Oke ziemlich falsch. Aber immerhin kannte er den Song. «Nicht schlecht. Aber meiner wäre
To Lose My Life
von den
White Lies
.»
«Kenne ich nicht.» Ich hatte ohnehin wenig Ahnung von aktueller Musik. Nach der Neuen Deutschen Welle war der neueste Pop irgendwie an mir vorbeigezogen.
«Doch, kennst du!» Oke hatte keine Hemmungen, noch mal gegen das Stimmengewirr und die Musik des DJ s anzusingen. Dazu beugte er sich ein wenig näher zu mir und summte leise in mein Ohr:
«He said to lose my life or lose my love
That’s the nightmare I’ve been running from
So let me hold you in my arms a while
I was always careless as a child
And there’s a part of me that still believes
My soul will soar
Weitere Kostenlose Bücher