Mein Leben in 80 B
nach.
Hanna rauschte ab.
«Bohh ey, was ist denn mit der los? Mama, ganz in echt, ich hab dich nicht angelogen, ich hab Hanna bestimmt mit diesem Typen gesehen. Der hat so coole Turnschuhe an, die mit dem Reißverschluss an der Seite, die du mir nicht kaufen wolltest, weil sie zu teuer waren.»
«Wir glauben dir ja. Und Hanna lügt auch nicht unbedingt. Wenn man Dinge verschweigt, dann ist das nicht gleich gelogen», erklärte Toni seinem Sohn.
Das war ja mal eine ganz neue Weltanschauung. Damit könnte Toni prima in die Politik wechseln. Wir sagen einfach mal nicht, dass das Geld für die Rentner knapp wird, dann haben wir nicht gelogen, wenn es am Ende nicht reicht. Wir sagen nicht, dass die Deiche die nächste Flut vermutlich nicht halten, dann macht es nichts, wenn beim nächsten Tauwetter alles unter Wasser steht. Wir sagen auch nicht, dass wir mit der Praktikantin rummachen, dann ist die Nummer mit dem treuen Ehemann keine Lüge.
Ich war froh, dass ich saß, denn ich spürte, wie mir die Beine zitterten. Ich holte tief Luft. «Das ist aber wirklich Unsinn. Du kannst doch nicht behaupten, nur weil man Dinge verschweigt, sind sie keine Lügen.» Das musste jetzt einfach raus.
Toni sah mich erschrocken an. Anscheinend war mein Tonfall etwas schärfer ausgefallen als beabsichtigt.
«Im Einzelfall mag das ja stimmen, aber ich möchte schon, dass ihr mir sagt, wenn etwas nicht gut gelaufen ist.» Ich wandte mich an Tom. «Wenn du zum Beispiel in einer Klassenarbeit eine Fünf bekommst und uns nichts erzählst, dann ist das zwar nicht gelogen, aber umso schlimmer, weil das zeigen würde, dass du kein Vertrauen zu uns hast. Spätestens am Schuljahresende sehen wir an deinem Zeugnis sowieso, wie du mitgearbeitet hast.»
«Geht ja gar nicht. Du musst doch alles unterschreiben, sonst kriege ich Ärger von Frau Plompun.»
«Das war ja nur ein Beispiel von Mama.» Toni sah allerdings nicht weniger verwirrt aus als Tom.
«Also hat Hanna kein Vertrauen? Sonst hätte sie das Knutschen zugegeben, oder?» Klar, dass Tom diese wirren Erklärungen zum Thema Wahrheit und Lüge nicht nachvollziehen konnte. In seinem Alter gab es Schwarz und Weiß, kein Grau dazwischen.
«Vielleicht war es ihr peinlich, vor uns allen darüber zu sprechen», musste ich sie in Schutz nehmen. «Weißt du, wenn man sich zum ersten Mal verliebt, ist das etwas sehr Persönliches. Lass sie doch erst einmal alleine damit klarkommen.»
Man konnte Tom förmlich ansehen, wie er versuchte, diesen Gedanken in seinem kleinen Hirn zu verarbeiten. Es war schon ein paar Wochen her, da hatte er mich abends gefragt, ob ich Toni oder Toni mir eigentlich zuerst gesagt hatte, dass er mich lieb hätte. Weil er nicht wusste, wie er einem Mädchen in seiner Klasse sagen sollte, dass er sie mochte, konnte er nicht einschlafen. Die Sorgen eines Zehnjährigen!
Aber offensichtlich erinnerte er sich jetzt daran, dass ich weder Hanna noch Toni von der Klassenkameradin erzählen durfte, denn er nickte und sagte: «Okay.» Dann stopfte er sich noch ein Sushi-Röllchen in den Mund und spülte mit Apfelsaft nach. «Darf ich auch aufstehen?»
Toni nickte nur, und Tom flitzte die Treppen hinauf in sein Zimmer.
«Was war das denn für eine Rede? Ist es etwa falsch, wenn ich wissen möchte, mit wem sich meine Tochter herumtreibt?», machte Toni seinem Unverständnis Luft, sobald Tom verschwunden war.
Ich spürte, wie in mir langsam die Wut aufkochte. «Erstens ist Hanna
unsere
Tochter. Und zweitens kann von Herumtreiben überhaupt keine Rede sein, wenn sie auf dem Schulhof einen Freund trifft.»
Toni schlug mit den flachen Händen links und rechts neben seinen Teller. «Von wegen, auf dem Schulhof einen Freund treffen. Sie hat den ja vor allem auf den Mund getroffen. Und wir wissen nichts davon! Ich erwarte, dass Hanna uns so wichtige Dinge erzählt. Schließlich geht es uns auch etwas an, wenn …»
«Wenn der Typ sein Taschengeld als Dealer aufbessert oder Hanna zu Flatrate-Sauf-Partys abschleppt, ja, dann ginge uns das etwas an. Aber wenn
unsere
Tochter sich verliebt und sie den neuen Freund am Anfang für sich alleine haben will, weil sie sich noch nicht sicher ist, ob das eine längerfristige Sache ist, dann sollten wir ihr die Entscheidung überlassen, was sie uns erzählt.» Ich versuchte, mich zu mäßigen, was mir einigermaßen schwerfiel. «Kannst du dich nicht mehr daran erinnern, wie es war, als du das erste Mal verliebt warst? Als alles so zerbrechlich und
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