Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
ich fand die ganze Veranstaltung absolut ekelhaft. Als zwanzig Wärter damit fertig waren, Kurt zu Brei zu schlagen, sah er aus, als hätte ihn ein Team von Froschspießern erwischt, und jedes Mal, wenn ich ihn danach sah, tauchte vor meinem geistigen Auge ein riesiger Ochsenfrosch auf. Sie hatten ihn so übel zusammengeschlagen, dass es aussah, als hätte er zwei Köpfe. Und es war noch schlimmer, als es sich anhört. Sie haben ihn bis zu seinem Tod gequält. Man sah die Angst in ihren Augen, weil sie daran dachten, was er mit den beiden Wärtern gemacht hatte. Sie hatten so große Angst vor ihm, dass sie sich alle erdenkliche Mühe gaben, so auszusehen, als hätten sie keine. Mein Leben lang werde ich diese Dinge nicht vergessen. Und das Wissen darum, dass ich überhaupt nie hätte dort sein dürfen, um das alles mit anzusehen, macht es nur noch schlimmer für mich.
DREIUNDZWANZIG
Das Filmteam von HBO arbeitete immer noch an dem Dokumentarfilm, den sie angefangen hatten, bevor wir vor Gericht kamen. Nach einem runden Jahr im Gefängnis hatte ich es fast vergessen und dachte, es sei nichts dabei herausgekommen. Sie hatten mich und Domini interviewt, meine Familie, die Cops, die Familien der Opfer und jeden sonst, der mit ihnen reden wollte. Und sie hatten den gesamten Gerichtsprozess von Anfang bis Ende gefilmt. Ich habe Paradiese Lost nicht gesehen, als er 1996 schließlich gesendet wurde, anders als viele Leute überall auf der Welt.
Ich fing an, täglich Briefe und Postkarten von Leuten aus dem ganzen Land zu bekommen, die über den Film entsetzt waren. Die überwiegende Mehrheit dachte: » Das hätte auch ich sein können, dem sie das angetan haben! « Wenn Sie verstehen wollen, welche Wirkung das auf mich hatte, müssen Sie begreifen, dass ich bis dahin weder Sympathie noch Verständnis von irgendjemandem erfahren hatte. Wohin ich auch blickte, sah ich Abscheu, Verachtung und Hass. Die ganze Welt wollte, dass ich starb. Angesichts solcher Feindseligkeit ist es unmöglich, Hoffnung zu behalten. Und jetzt plötzlich bekam ich Briefe von Leuten, die mir schrieben: » Es tut mir leid, was dir angetan wurde. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um zu helfen. «
Ein einziger Brief hätte genügt, um einen winzigen Funken Hoffnung in meinem Herzen zu entfachen, aber ich bekam Hunderte. Jeden Tag kamen mindestens ein oder zwei, aber manchmal waren es auch zehn oder zwanzig. Ich lag auf meinem Bett, blätterte in den Briefen und schwelgte darin wie ein dicker Junge in einem Berg Süßigkeiten, und ich flüsterte: » Danke, danke … « , immer und immer wieder. Ich drückte die Briefe an die Brust und legte sie zum Schlafen unter meinen Kopf. In meinem ganzen Leben war ich noch nie für irgendetwas so dankbar gewesen.
Ich will kein » heiliges « Leben des Gebets und der Betrachtung führen. Ich will ein Leben der Anstrengung und der Freude, der Mühe, des Suchens, des Kampfes und der Ausschweifung. Ich will mich nicht mit einer Erfahrung begnügen, wenn es ein ganzes Leben voller Erfahrungen geben kann. Ich bin so begierig nach Wissen, dass ich mehrere Leben zugleich führe, um es zu bekommen. Ich bin Katholik und Buddhist, Sünder und Philosoph, Ehemann und Vater, Native American und Weißer – ich habe keine Lust mehr, in irgendeine dieser Kategorien zu passen. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich Pornografie und die Kunst Michelangelos nicht gleichermaßen lieben kann. Ich will das Leben aus jeder Perspektive sehen. Ich glaube, ich habe bei einem Ausflug in das Reich des Denkens, der Philosophie und Praxis des Ostens viel gelernt – Dinge, die ich bis zum Ende meines Lebens bei mir tragen werde. Aber das alles reicht nicht annähernd an das heran, was ich von – und mit – der Frau gelernt habe, die jetzt meine Frau ist.
Nach ungefähr zwei Jahren im Todestrakt fand ich im Februar 1996 einen sonderbaren Brief in der Post. Er kam von einer Frau, die Filme liebte und den Dokumentarfilm über meinen Fall kürzlich auf einem Filmfestival in New York gesehen hatte. Sie hieß Lorri Davis, und sie tat etwas, das niemand anders vor ihr getan hatte: Sie entschuldigte sich dafür, dass sie in mein Privatleben eindrang, indem sie an mich herantrat. Das ließ mich wirklich aufhorchen, denn ich hatte das Gefühl, längst kein Privatleben mehr zu haben. Mein Leben war bloßgelegt worden, und jeder, der Lust hatte, durfte es betrachten und mit einem Stock darin herumstochern. Ich war eine Fliege, der ein grausames Kind
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