Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
die Flügel abgerissen hatte. Ich war die sprichwörtliche Ameise unter dem Vergrößerungsglas. Jeden Tag bekam ich Briefe von Leuten, die nichts taten, als mir Fragen zu den intimsten Aspekten meines Lebens zu stellen, fast so, als habe jeder das Recht, alles über mich zu erfahren. Stellen Sie sich vor, Sie würden von Paparazzi verfolgt, aber statt Sie zu fotografieren, werfen sie mit Steinen nach Ihnen und versuchen, Sie zu sezieren.
Hier war eine Lady, die wusste, was alltägliche Höflichkeit wert war. Ihr sei schrecklich zumute bei dem Gedanken an das, was ich durchgemacht hätte, und sie müsse einfach Kontakt mit mir aufnehmen, aber sie wolle nicht aufdringlich sein. Ich habe ihr sofort geantwortet, und seitdem versuchen wir, einander täglich zu schreiben. Die Briefe, die wir einander geschrieben haben, füllen inzwischen einen ganzen Schrank.
Sie ist so magisch wie nichts sonst auf der Welt, aber ich habe mindestens ein Jahr gebraucht, um sie verstehen zu können, denn sie war anders als alles, was ich je gekannt hatte. Sie war aus New York, sie war auf dem College gewesen, hatte die Welt bereist, Südamerika und den Nahen Osten, und sie war Architektin und hatte an Projekten für Leute gearbeitet, die ich nur aus Hollywood-Filmen kannte. Sie machte mich mit einer ganz neuen Lebensweise bekannt.
Wir schrieben einander wie besessen, und ungefähr einen Monat nach jenem ersten Brief telefonierten wir miteinander. Ich beschloss einfach eines Tages, sie anzurufen. Ich war schrecklich nervös, denn ich wusste, ich würde dieses Gespräch improvisieren müssen, statt es vorauszuplanen. Sie lacht heute immer, wenn sie jemandem erzählt, wie ich sie das erste Mal angerufen habe. Sie nahm den Hörer ab und hörte einen starken Südstaatenakzent: » Geht’s dir gut? « Es war ein solcher Schock für sie, dass sie eine Sekunde brauchte, um zu antworten, und sie sagt, es hätte sie beinahe umgebracht. Sie macht sich immer noch über meinen Akzent lustig, aber ihre Freunde in New York sagen ihr oft, sie klinge allmählich wie ich.
Ungefähr sechs Monate später besuchte mich Lorri. Ich weiß, dass es im Sommer war, denn sie trug keine Jacke. Wir hatten keine Ahnung, was uns erwartete, und hatten beide – ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll – den Autopiloten eingeschaltet. Uns war nur klar: Wir mussten miteinander sprechen und uns anschließend sehen. Lorri landete am Abend vorher, damit sie morgens um acht im Gefängnis sein konnte, wenn die dreistündige Besuchszeit anfing. Am selben Tag flog sie nach New York zurück.
Schritt für Schritt tasteten wir uns vorwärts. Anfangs hätte ich gar nicht artikulieren können, was wir da taten, denn ich hatte keinen Begriff von Subtilität. Jetzt ist es meine private Obsession, mehr darüber zu lernen. Ich glaube, diese Obsession begann mit Literatur. Der lateinamerikanische Autor Julio Cortázar hatte eine große Bedeutung für ihr Leben, und seine Bücher gehörten zu ihrem kostbarsten Besitz. Als sie sie mir schickte, war ich völlig verdattert. Mir leuchtete einfach nicht ein, wie jemand diese Geschichten für so wichtig halten konnte, dass er sie zu Papier brachte. Ich war in dem Glauben aufgewachsen, eine richtige Geschichte habe einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss, bei dem alle losen Enden verknotet wurden. Aber diese Geschichten trotzten jeder Logik.
Dass ich in Lorri verliebt war, wusste ich, als ich anfing, mitten in der Nacht wütend aufzuwachen und sie zu verfluchen, weil sie mich dazu brachte zu fühlen, wie ich fühlte. Es war unglaublich schmerzhaft, und nichts hat mir je so wehgetan. Ich versuchte, so viel wie möglich zu schlafen, nur um diesem Gefühl zu entkommen, und ich knirschte mit den Zähnen, bis sie ganz stumpf waren. Jetzt, Jahre später, ist es genau andersherum. Jetzt fühle ich keinen Schmerz, aber sie lässt immer noch mein Herz explodieren. Jetzt ist da nur noch Spaß und Liebe und Albernheit. Sie treibt mich in den Wahnsinn, weil ich nie genug davon bekomme.
In den ersten beiden Jahren unserer Bekanntschaft flog Lorri ungefähr einmal im Monat von New York nach Arkansas. Dazu kam ihre Telefonrechnung, und so wurde es zu einer sehr teuren Beziehung für sie.
Wenn sie mich besuchte, waren wir durch eine Glasscheibe getrennt. Es machte uns wahnsinnig, und oft bliesen wir durch das Gitter am unteren Rand der Scheibe, um unseren Atem zu spüren. Ich liebte es, dazusitzen und Lorri anzuschauen, denn sie hat einen
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