Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
quollen vor Anstrengung aus den Höhlen wie die eines Tiers und versuchten wie wild, die Dunkelheit zu durchdringen.
Irgendwann befahl man uns auszuziehen, und das Haus wurde abgerissen. Die Vororte rings um Marion dehnten sich aus, und die Leute in Häusern, die eine Viertelmillion Dollar kosteten, wollten nicht, dass in ihrem Blickfeld eine Blechdachhütte auf einem Knochenhügel stand. So etwas minderte den Wert ihrer Immobilien.
Vor ihrem Abriss war die Hütte allerdings noch jemandem aufgefallen. Freitags nachmittags gingen wir immer alle zusammen mit meinem Stiefvater zur Bank, um seinen Gehaltsscheck einzulösen, vor allem im Sommer. In diesen kostbaren paar Minuten konnten wir in einem klimatisierten Gebäude sitzen. Wahrscheinlich rochen wir nicht besonders gut, denn wir schwitzten vierundzwanzig Stunden am Tag. Wir stürmten die Bank wie eine Wagenladung Wikinger und bemühten uns, nichts schmutzig zu machen.
Jede Woche spazierte ich dann drinnen herum und sah mir Dinge an, die ich mir schon hundert Mal angesehen hatte. Es gab ja nicht viel anderes zu tun. Ich war verblüfft, als wir eines Tages hineinspazierten und im Eingangsflur eine Kunstausstellung sahen, eine zusammenfaltbare Stellwand, ungefähr wie ein Raumteiler, mit ungefähr zwanzig Gemälden. Ein laminiertes Blatt Papier, das daran befestigt war, informierte den Leser, dass diese Bilder von der Kunstklasse der örtlichen Highschool gemalt worden waren. Ich ging daran entlang und betrachtete jedes einzelne Werk. Die meisten waren nicht der Rede wert, aber ein paar waren regelrecht bizarr und sogar ein bisschen furchterregend. Am Ende der Reihe blieb ich wie angewurzelt stehen und hielt den Atem an. Was ich da sah, war ebenso wunderbar wie grausam. Irgendjemand, ein Schüler der Highschool, hatte unser Haus gemalt. Hier war es in seinem ganzen Elend zur Schau gestellt, perfekt bis in jedes Detail. Eine Seite der Veranda war morsch und eingestürzt. Wilde Rosen überwucherten den Verfall. Ein Kribbeln lief über meine Wirbelsäule, und ich sah mich um, als stände der Maler in der Nähe und beobachtete meine Reaktion. Aber wir waren die einzigen Kunden in der Bank. Der Kassierer warf nicht mal einen Blick in meine Richtung.
So stand ich in der Bank und starrte das Bild an, auf dem unser Haus zu sehen war, die eingestürzte Veranda und die Baumwollfelder ringsum, als meine Mutter hinter mir herankam und fragte: » Ist das unser Haus? « Sie runzelte konzentriert die Stirn und rief dann leise: » Oh, wow . « Mein Stiefvater kam herüber, um zu sehen, was wir uns da anschauten, und sie sagte: » Sieh mal, das ist unser Haus. « Er setzte die Brille auf und beugte sich vor, um es eingehend zu betrachten. Schließlich sagte er: » Vielleicht. Es könnte aber auch ein anderes Haus sein. «
Ich wusste, dass mein Stiefvater nicht der Allerhellste war, aber das war selbst für seine Verhältnisse zu viel. Ich wies ihn auf die Details hin und erklärte: » Guck doch. Die halbe Veranda ist weggebrochen. Das ist unseres. « Er wurde dickköpfig. » Das hat nichts zu bedeuten. Gibt auch andere Häuser, wo die Veranda weggebrochen ist. « Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu streiten. Wenn man ihm bewies, dass er unrecht hatte, machte er einem das Leben eine Woche lang zur Hölle.
Ich wünschte, ich hätte dieses Bild heute. Ich würde es irgendwo eingeschlossen verwahren und vielleicht einmal im Jahr herausholen, um mich daran zu erinnern, woher ich komme. Ich würde es meiner Frau und meinem Sohn zeigen und versuchen, ihnen zu erzählen, wie hart das Leben da draußen war und wie sehr es mich beeinflusst hat. Aber so etwas funktioniert nie. Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, dass man etwas selbst erleben muss, denn sonst kann man es nie ganz begreifen.
Im Rückblick war das Schlimmste an dieser Hütte nicht die Armut, die Hitze, die Kälte oder gar die erniedrigenden Lebensumstände, sondern die absolute und vollständige Einsamkeit. In den vielen Jahren in diesem alten Haus hatte ich keinen einzigen Freund auf der ganzen Welt, der mir Gesellschaft geleistet hätte. Ich wohnte weit draußen, mitten im Nirgendwo, und ringsum gab es nichts als Felder. Keine anderen Kinder, keine Nachbarn, die wenigstens mal mit mir gesprochen hätten. Es war so einsam, dass ich dachte, sogar der Tod wäre vorzuziehen. Wenn ich mein kleines Batterieradio nicht gehabt hätte – vielleicht wäre ich innerlich gestorben.
Jahre später habe ich ein Buch
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