Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
wir genug zu essen hatten (auch wenn es meistens Junkfood war), sie ging immer zum Elternabend in die Schule, um mit meinen Lehrern zu sprechen, und wir bekamen jedes Jahr einen Osterkorb mit Schokoladenhasen. Sie versuchte, uns zu pflegen, wenn wir krank waren, auch wenn ihre Vorstellung von Krankenpflege manchmal darin bestand, dass ich mit einer Bronchitis röchelnd im Bett lag und sie daneben saß und eine ihre No-Name-Zigaretten rauchte.
Ich bin jetzt an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich mit einer Mischung aus Liebe, Abscheu, Zärtlichkeit, Groll und manchmal Hass auf sie zurückblicke. Ich bin zu oft im Stich gelassen worden, um wirklich restlos verzeihen zu können. Ich bin nicht wie meine Mutter, die mit dir streitet und am nächsten Tag weiterlebt, als wäre nie etwas gewesen. Vielleicht haben ihre guten Taten die Wucht ihrer schlechten gemildert. Das ist das Beste, was ich sagen kann.
FÜNF
In Gefängnis zu sein, noch dazu mit einem so bekannten Fall wie meinem, bringt mich in eine eigenartige Lage. Wildfremde Menschen bekommen das Gefühl, mich zu kennen, nur weil sie mich im Fernsehen gesehen oder von mir gelesen haben. Es nimmt ihnen die Hemmungen, wenn sie mich ansprechen. Ich habe nichts dagegen; ich finde es interessant. Manchmal bringt es mich zum ausführlichen Nachdenken, und manchmal bin ich regelrecht platt.
Die Briefe, die man mir schreibt, entstehen aus vielen unterschiedlichen geistigen und emotionalen Befindlichkeiten. Ich sehe das ganze Spektrum des menschlichen Lebens. Ich bin wie ein Barkeeper ohne Bar; die Leute erzählen mir einfach ihre Geschichten. Manche wollen sich etwas von der Seele reden, als müssten sie es einfach nur irgendjemandem erzählen. Andere halten mich für eine Art Orakel und befragen mich vor großen Entscheidungen in ihrem Leben. Leute, die eine Scheidung durchmachen, Leute, die ihre Kinder verloren haben, Leute, die eine Abtreibung erwägen – sie alle schreiben und erzählen mir von ihren Privatangelegenheiten. Andere erkundigen sich nach den meinen. Ein paar habe ich sogar im Gefängnis kennengelernt.
Vor Jahren wurde ich oft von einem frommen Ehepaar besucht. Sie gehörten der Pfingstkirche an und waren viel älter als ich, aber fast ohne jede Lebenserfahrung. Sie waren nie aus Arkansas herausgekommen und hatten nie etwas mit Leuten zu tun gehabt, die nicht zu ihrer gesellschaftlichen Gruppe gehörten. Im Grunde wussten sie nichts mit mir anzufangen, aber sie kamen immer wieder. Ich muss zugeben, dass es mir Spaß machte, sie zu schockieren. In gewisser Hinsicht waren sie für mich genauso außerirdisch wie ich für sie.
Nicht selten brachten sie das Gespräch auf das Thema Sex. Sie hatten wahrhaftig keine Ahnung davon, dass Leute alle möglichen Varianten von Sex praktizieren, nicht nur die Missionarsstellung. Als ich ihnen erklärte, dass es auch noch andere Stellungen gebe und dass man sogar oralen Sex treiben könne, sahen sie aus, als würden sie gleich einen Krampfanfall erleiden. Sie fanden es unbegreiflich und kamen schließlich zu dem Urteil, dass nur äußerst perverse Menschen sich solche Akte ausdenken oder daran teilnehmen. Sie stellten fest, dass ein normaler Mensch so etwas unmöglich genießen könne, aber anscheinend genossen sie es, darüber zu reden.
Hassbriefe nenne ich das, was Leute mir schreiben, die sich tatsächlich nie die Mühe gemacht haben, sich die Fakten in meinem Fall anzusehen, und nie über die erste reflexhafte Reaktion hinausgekommen sind. Tatsache ist aber, dass ich die Briefe, die keinen Zuspruch enthalten, an den Fingern einer Hand abzählen kann, während ich die Briefe von Leuten, die mir ihre Unterstützung anbieten und wissen wollen, wie sie mir helfen können, zu einem kleinen Berg stapeln könnte.
Die meisten, die mir ihren Hass entgegenspucken, sind nicht besonders intelligent oder motiviert, sondern eher faul, und wenn sie sich aus irgendeinem Grund verlocken lassen, einen Stift zur Hand zu nehmen, sind ihre Botschaften meistens unzusammenhängend und ungebildet. Rechtschreibung und Syntax sind grauenvoll, und deshalb ist es schwer, durch etwas von dem, was sie sagen wollen, gekränkt zu sein, selbst wenn sie schreiben. Wenn sie nicht motiviert oder intelligent genug sind, um die Schreibweise eines simplen Wortes im Wörterbuch nachzuschlagen, dann weiß man, dass sie sich ganz sicher nicht die Zeit genommen haben, sich über den Fall zu informieren. Aber alles in allem scheinen hasserfüllte Leute
Weitere Kostenlose Bücher