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Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Titel: Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Damien Echols
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den Platz mit mir, und dann zeigte er mir auf den letzten zwei Meilen bis zu seinem Haus, wie man Auto fährt. Keith war extrem entspannt (da draußen, mitten im Nirgendwo, gibt es nicht viel, gegen das man fahren könnte) und sagte ein paarmal: » Du kannst ruhig schneller fahren. «
    Jacks Kinder waren inzwischen längst weggezogen, aber Keith, seine Frau und ihre kleine Tochter mussten zu uns in die Hütte mit dem Blechdach ziehen, nachdem ihr Haus mit allem, was sie besaßen, abgebrannt war. Solange er bei uns wohnte, brachte er mir eine Menge praktischer Fertigkeiten bei – schießen, seine Waffe pflegen, einen neuen Motor ins Auto bauen –, und die ganze Zeit behielt er einen gleichmäßigen Bierpegel. Ich habe nie Geschmack an dem Zeug gefunden und konnte nie eine ganze Flasche davon trinken. Er gab mir seine Pornohefte und rülpste: » Sag’s nicht Dad, dass ich sie dir gezeigt habe. « Alles in allem war ich gern mit ihm zusammen, auch wenn sein Taktgefühl manchmal fragwürdig war (Jahre später, als er sah, wie ein Mädchen aus der Nachbarschaft mit mir flirtete, rief er mir fröhlich zu: » Du solltest zugreifen, Junge! « ). Damals habe ich zu ihm aufgeschaut, aber nachdem ich ins Gefängnis gekommen bin, habe ich von ihm nichts mehr gehört oder gesehen.
    In meinem ersten Jahr auf der Junior High freundete ich mich mit einem leicht schwachsinnigen und schwer abgefahrenen Jungen namens Kevin an. Ich war höchstwahrscheinlich der einzige Freund, den er je hatte, und er ließ sich einfach nicht zum Schweigen bringen. Es war, als habe er sich sämtliche Gespräche seines Lebens aufgespart, und jetzt konnte er stundenlang über buchstäblich alles reden – über einen Zeichentrickfilm, den er am Tag zuvor gesehen hatte, über eine Zeitschrift im Supermarkt oder über ein neues Stofftier. Was Stofftiere anging, war dieser Junge ein Freak: Er besaß eine riesige Sammlung, in die er jeden Cent seines Geldes steckte. Ich brauchte nie viel zu sagen; er bestritt unsere gesamte Unterhaltung allein. Nicht mal im Unterricht schaffte er es, den Mund zu halten. Alle anderen gingen ihm nach Möglichkeit aus dem Weg, und so hatten wir in der Mittagspause immer einen Tisch für uns allein.
    Dass ich keinen weiteren Umgang hatte und nicht versuchte, mehr Freunde zu finden, lag vermutlich daran, dass ich nicht mithalten konnte. Wir waren bettelarm, und deshalb hatte ich nicht die neuesten Turnschuhe, ich hatte keine Ahnung, welche Videos auf MTV liefen, ich hatte die angesagten Filme nicht gesehen, und ich besaß nicht ein einziges trendiges Kleidungsstück. Bei Kevin brauchte ich nicht mitzuhalten. Von ihm aus konnte ich einen Kartoffelsack anziehen und barfuß herumlaufen, solange ich mir anhörte, wie er von seiner Stofftiersammlung erzählte, und dabei hin und wieder nickte. Darüber hinaus erwartete er nichts. Ich glaube, praktisch jeder andere auf der Welt misshandelte ihn und machte sich über ihn lustig, aber solange er mit mir herumlaufen durfte, war ihm das egal. Rückblickend glaube ich außerdem, dass ich selbst ebenfalls halbwegs aufgegeben hatte. Mit meinen zwölf oder dreizehn Jahren war ich zu dem Schluss gekommen, dass das Leben hoffnungslos war.
    Im ersten Jahr auf der Junior Highschool blieb ich sitzen. Ich kann mich nicht erinnern, auch nur ein einziges Mal meine Hausaufgaben gemacht zu haben, und als es Zeugnisse gab, bekam ich die Quittung: Ich hatte in keinem der Fächer bestanden, und es war mir egal. Am Ende des Schuljahrs lag ein weiterer langer, brutaler, einsamer Sommer vor mir, den ich in dem, was meine Familie heute immer noch das » weiße Haus « nennt, verbringen würde. In diesem Jahr würde ich eine Extraportion Düsternis mit nach Hause nehmen: Unmittelbar vor den Ferien versuchte ein anderer Dreizehnjähriger, sich zu erhängen.
    Joseph war in drei oder vier Fächern in meinem Kurs. In einem saß er sogar unmittelbar vor mir. Nie sah ich ihn ohne seine große Sporttasche mit Büchern, Papier, Buntstiften, Winkelmessern und allem anderen, was man möglicherweise brauchen würde, um in der Welt der siebten Klasse zurechtzukommen. Er war kein Freund von mir, aber ich wusste, wer er war. Zwei Wochen vor Schuljahresschluss kam er nicht mehr, und bald wusste die gesamte Schülerschaft, dass er versucht hatte, sich aufzuhängen. Er überlebte es, aber die nächsten paar Monate verbrachte er in einer psychiatrischen Anstalt. Das Bild verfolgte mich den ganzen Sommer hindurch so machtvoll wie

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