Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
Leute stehen blieben und mir zuschauten. Bis dahin hatte ich nie darüber nachgedacht, aber jetzt erkannte ich, dass es tatsächlich etwas gab, was ich gut konnte. Ich begriff plötzlich, dass es etwas war, das nicht jeder konnte, und dass meine Fähigkeiten Eindruck machten. Das gab mir Selbstsicherheit und vergrößerte meine Selbstachtung. Ich hielt den Kopf höher, und meine Minderwertigkeitsgefühle welkten dahin. Es war, als wäre ich ein ganz neuer Mensch geworden. Eine neue Ära hatte begonnen.
Als ich im Jahr darauf in die achte Klasse kam, war es in der Schule völlig anders. Ich war nicht mehr unsichtbar. Anscheinend hatten auch ein paar andere Spaß am Skaten gefunden, und zusammen bildeten wir unsere eigene kleine Clique. Unsere Kleidung hatte ihren eigenen Style, wir benutzten unsere eigenen, obskuren Anspielungen und hielten uns an unsere eigenen Verhaltensregeln. Unsere Aufmachung erleichterte es uns, andere Skater in der Masse der Schüler zu erkennen, wobei es denen genauso ging. Seitdem haben sich einige Dinge verändert, aber damals erregten Skater ziemlich viel Aufmerksamkeit, oft genug nicht von der positiven Sorte.
Vielleicht fiel ich ein bisschen mehr auf als die anderen. Mein Kopf war auf der einen Seite kahl rasiert, und auf der anderen Seite trug ich das Haar lang. Ich hatte Springerstiefel, während alle anderen die neuesten Nikes trugen. Ich hatte Ringe in beiden Ohren und in einer Brustwarze. Heutzutage schaut bei so was kein Mensch mehr zweimal hin. Hausfrauen haben Tattoos, und jeder Teenager auf der Straße hat ein Piercing irgendwo im Gesicht. Ein Nasenring ist ungefähr so schockierend wie ein Glas Milch. Aber in den Südstaaten ist alles anders.
Mein Benehmen war auch nicht gerade dezent. Mindestens einmal in der Woche flog ich wegen Unruhestiftung aus dem Unterricht. Ein Teil des Problems bestand darin, dass ich einfach nur froh war, der heimischen Hölle zu entrinnen. Ich machte mich über die Lehrer lustig, krähte bizarre und unsinnige Antworten auf ihre Fragen in den Raum und nervte sie auf eine Art und Weise, wie sie jede Autoritätsperson rasend vor Wut macht. Ein Lehrer drohte mir, er werde mir » dieses Vogelnest vom Kopf schlagen « . Damit meinte er meine Frisur. Ich war entzückt.
Als ich Jason Baldwin kennenlernte, war er das genaue Gegenteil. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn in seinem ersten Jahr auf der Junior High jemals hatte sprechen hören. Ich war ein unreifer Perverser, der sich gern damit unterhielt, dass er in der Freistunde vulgäre Ausdrücke im Wörterbuch nachschlug. Ganz sicher würde ich meine Zeit nicht mit so etwas Sinnlosem wie Hausaufgaben verplempern. Eines Tages, als ich mein sexuelles Vokabular zum hunderttausendsten Mal durchgeprobt hatte, schlug ich das Wörterbuch zu, blickte auf und sah mich nach jemandem um, dem ich auf die Nerven gehen könnte.
Ein dünner Junge erwiderte meinen Blick. Er hatte ein blaues Auge und einen langen blonden Nackenspoiler und trug ein » Mötley Crüe « -T-Shirt. Nach dem Blatt auf seinem Schreibtisch zu urteilen hatte er gemalt und gekritzelt, um sich die Zeit zu vertreiben. Neben seinen Füßen stand ein Rucksack, der, wie sich herausstellte, kein einziges Buch enthielt, sondern eine große Sammlung von Tonbandkassetten: Metallica, Anthrax, Iron Maiden, Slayer und jede andere Band, die ein junger Nichtsnutz sich nur wünschen konnte. Er hatte oft einen kleinen Walkman dabei und gab mir einen der beiden Ohrstöpsel in der Aufgabenstunde oder, ein paar Monate später, im Bus, sodass wir beide seine Musik hören konnten. Ich sah ihn jeden Tag in der Mittagspause in der Cafeteria und nickte ihm zu, wenn ich hinausging. Nie habe ich ihn gefragt, woher er das blaue Auge hatte.
Jason hatte meistens die neuesten Metal-Edge - und Heavy-Metal -Hefte, und ich blätterte sie durch, während er sich meine Thrasher -Sammlung ansah. Unser Austausch beschränkte sich auf die Schule, denn ich wohnte ja immer noch in der Hütte weit draußen vor der Stadt, und meine Mom fuhr meine Schwester und mich mit einem blauen Pick-up zur Schule. Gemeinsam saßen wir nur in der Hausaufgabenstunde, und deshalb sprachen wir wenig oder kaum. Hauptsächlich verständigten wir uns mit Gesten – wir deuteten mit dem Finger, zogen die Brauen hoch, schüttelten den Kopf und so weiter. Das änderte sich erst an dem Tag, als Nanny beinahe gestorben wäre.
Nanny hatte schon einen Herzinfarkt hinter sich, und deshalb kannte sie die
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