Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
nichts vorher. Es wollte mir nicht aus dem Kopf gehen.
Spätnachts lag ich im Bett und drückte das Ohr an mein kleines Radio, damit niemand es hörte. Wenn Jack auch nur eine Andeutung von Musik mitbekam, kriegte er einen Anfall und behauptete, ich hätte ihn die ganze Nacht wach gehalten. So lag ich da und fragte mich, ob Joseph vielleicht Musik gehört hatte, als er zu dem Schluss gekommen war, dass das Leben sich nicht mehr lohne. Hatte er gewartet, bis es Abend war, oder hatte er es tagsüber getan? Wo hatte er den Strick festgebunden? War er von einem Stuhl gesprungen? Und warum hatte es nicht geklappt? Wenn ich etwas zu ihm gesagt hätte, hätte das etwas geändert? Mehr als einmal trieb es mir die Tränen in die Augen. Ich lag nass geschwitzt im Bett und starrte in die Dunkelheit, und ich merkte nicht mal, wie die Mücken mich stachen, während ich diese Szenen in meinem Kopf immer wieder abspulte. Ich dachte, wenn irgendjemand wusste, wie einsam und elend mir zumute war, dann dieser Junge. Das Leiden und die Geister, die mich verfolgten, verwehten im Licht der Morgensonne, aber sie warteten auf mich, wenn es wieder dunkel wurde. Ich konnte sie nicht abschütteln. So verbrachte ich meine Sommerferien.
Meine zweite Runde in der siebten Klasse fing nicht sehr viel anders an als die erste. Ich trug meine Secondhand-Klamotten und holte mir mein Gratisessen ab. Kevin war nicht mehr da, denn im Sommer hatte man entschieden, es sei besser, wenn er auf eine Sonderschule für Kinder mit Lernschwierigkeiten ginge. Ich war allein.
Einmal in der Woche durften wir während der Freistunden eine halbe Stunde in der Bibliothek verbringen. Bei einem dieser Besuche veränderte mein Leben sich drastisch, denn ich stieß auf eine hochwertige literarische Publikation namens Thrasher. Für diejenigen, die es nicht wissen: Es handelte sich um die Skateboarder-Zeitschrift. Es war das erste Mal, dass ich mit der Welt des Skateboards in Berührung kam. Skateboardfahren war nicht einfach ein Zeitvertreib, es war eine Kultur. Ich kann mich nicht erinnern, in unserer Schule jemals Skater gesehen zu haben, und deshalb habe ich keine Ahnung, wie dieses Magazin den Weg in unsere bescheidenen Archive finden konnte. Es wurde zu meiner Bibel. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als ans Skaten, und nach monatelangem Betteln bekam ich zu Weihnachten mein erstes Board. Es war ein billiges, schweres Ding ohne Nose und mit sehr wenig Tail, pissegelb und mit einem chinesischen Drachen bedruckt. Entschieden kein erstklassiges Teil, aber es war ein Anfang.
Ich übte Tag und Nacht nur noch Tricks und las Thrasher. Ich starrte die Anzeigen für neue Boards an, wie ein Sexbesessener die Porno-Angebote studiert, und ich lernte die Welt einer Musik kennen, von der ich bis dahin noch nie gehört hatte. Ich entdeckte The Cure, Dinosaur Jr., Primus, Black Flag, Circle Jerks und viele andere Klassiker.
Nanny zog in einen Trailerpark zwischen Marion und West Memphis mit dem zweifelhaften Namen » Lakeshore Estates « , und wenn ich sie da besuchte, gaben ein paar ihrer Nachbarn mir fünf Dollar dafür, dass ich ihren Rasen mähte. Ich sparte das Geld, um mir Kleidung von Skateboard-Firmen zu bestellen, und ersetzte die billigen Teile an meinem Board Stück für Stück mit anderen von besserer Qualität. Skateboarden war mein Leben, und ich arbeitete gerade noch so viel, dass ich die Schule in diesem Jahr überstand. Und schon bald standen die Sommerferien wieder vor der Tür.
Dieser Sommer war so heiß, elend und einsam wie alle anderen, aber er schien ein bisschen schneller vorbeizugehen, weil ich jetzt etwas Leben in mir spürte. Ich skatete den alten, stillgelegten Highway zwischen den Baumwollfeldern bis zum Gericht und zur öffentlichen Bibliothek hinauf. Dort benutzte ich jeden Randstein auf dem Parkplatz, bis ich schweißüberströmt war und kurz vor einem Hitzschlag stand. Wenn die alte Bibliothekarin mir nicht erlaubt hätte, an ihrem Trinkbrunnen zu saufen wie ein Pferd am Trog, wäre ich höchstwahrscheinlich an Dehydrierung gestorben. Ich ging nie mehr irgendwohin zu Fuß. Das Skateboard wurde zu einer Verlängerung meines Körpers. Ich kannte den Namen jedes Profiskaters, ich wusste, wer ihre Sponsoren waren, und ich wusste, welche Tricks jeder von ihnen erfunden hatte. Ich hätte sämtliche Statistiken aufsagen können, ohne einmal nachzudenken.
Das Skaten hatte eine unerwartete Nebenwirkung. Es fing an, als ich bemerkte, dass ein paar
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