Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
an die Wand gestellt, seine Umrisse mit dem Bleistift nachgezeichnet und dann mit Schattierungen ausgefüllt. Es sieht aus wie ein sehr matter Schatten, und es fällt einem erst richtig auf, wenn man es einmal richtig wahrgenommen hat. Ich habe fast eine Woche gebraucht, bis der Umriss mir aufgefallen ist, aber danach kann man das Bild nicht mehr unsichtbar machen. Mehrmals am Tag liege ich auf meiner Pritsche und merke, dass ich es anschaue. Es scheint den Blick auf sich zu ziehen wie ein Magnet. Der Himmel allein weiß, was in ihn gefahren ist und ihn dazu gebracht hat, aber ich bringe es nicht über mich, es abzuwaschen. Nachdem man ihn hingerichtet hat, ist es die einzige Spur, die von ihm geblieben ist. Er liegt jetzt seit fünf Jahren im Grab, aber sein Schatten ist noch da. Er war nichts und niemand. Alles, was von ihm übrig ist, sind ein paar alte Vergewaltigungsanklagen und eine mannshohe Bleistiftskizze. Vielleicht bin ich abergläubisch, aber ich kann mir nicht helfen: Ich habe das Gefühl, wenn ich diese Gestalt wegradiere, radiere ich die Tatsache weg, dass er jemals existiert hat. Wenn man alles bedenkt, wäre das vielleicht gar nicht so schlecht. Aber ich werde nicht derjenige sein, der es tut.
Es gab eine Zeit, in der ich dachte, die lebenden Insassen seien vielleicht nicht die einzigen, die im Todestrakt gefangen seien. Wenn es wirklich Orte gibt, an denen es spukt, wäre der Todestrakt dann nicht eine perfekte Spielwiese? Irgendwann ist dieser Gedanke jedem hier schon einmal durch den Kopf gegangen. Manche reißen Witze darüber, und es ist, wie wenn jemand pfeifend über den Friedhof geht. Andere sprechen überhaupt nicht gern darüber, und es kann ein heikles Thema sein. Wer möchte schon darüber nachdenken, dass er auf einer Matratze schläft, die drei oder vier Hingerichteten ebenfalls als Ruhestätte gedient hat? Kann man sich vorstellen, wie es ist, jeden Tag in den Spiegel zu schauen und sich zu fragen, wie viele Tote sich darin schon betrachtet haben? Wenn etwas Sonderbares passiert, schreiben es manche denen zu, die zuletzt hingerichtet wurden.
Einmal hatte ich im Tucker Max, wie das Hochsicherheitsgefängnis genannt wurde, ein ganzes Stockwerk im Todestrakt ein paar Monate lang ganz für mich allein. Durch Hinrichtungen waren in den beiden unteren Geschossen mehrere Zellen frei geworden, und die Wärter hielten es für eine gute Idee, Häftlinge aus dem zweiten Stock in den ersten und ins Erdgeschoss zu verlegen, um die leeren Zellen wieder zu füllen. Sie hofften, so könnten sie es sich ersparen, überhaupt noch in den zweiten Stock hinaufzusteigen. Das Dumme war nur, dass eine Zelle fehlte, und ich war der Einzige, der da oben übrig blieb, umgeben von siebzehn leeren Zellen.
Diese Situation hatte eine Menge Vorteile, und darum habe ich mich nicht beschwert. Zum einen hatte ich einen Fernseher ganz für mich allein. Es gab keine Streitereien um das Programm. Ich hatte auch ein eigenes Telefon und brauchte nicht mehr zu warten, bis der vor mir sein Gespräch beendete. Niemand über oder neben mir stampfte auf den Boden, um mir auf die Nerven zu gehen. Ich konnte so lange dasitzen und meditieren, wie ich wollte, ohne gestört zu werden. Ich wohnte so hoch oben, dass ich eine Weide mit Pferden sehen konnte, wenn ich aus dem Fensterschlitz schaute. Stundenlang sah ich ihnen beim Spielen zu, und noch besser als die Pferde war die Weide an sich, vor allem als es im Winter schneite. Beim Anblick einer von kahlen grauen Bäumen umgebenen, verschneiten Wiese tat mir das Herz unglaublich weh. Nichts lässt mich vor Herz- und Heimweh lauter heulen als der Winter. Manchmal fühlt es sich an, als wehte ein kalter Wind mitten durch ein Loch in meiner Brust. Das tut weh, Leute. Es tut höllisch weh und erinnert mich daran, wie lange ich schon hier bin.
Für kurze Zeit hatte ich einen winzig kleinen Zellengenossen – ein kleines Kätzchen mit weißem Fell und blauen Augen. Ich glaube, es war noch nicht alt genug, um von der Mutter getrennt zu sein, denn es passte in eine hohle Hand. Ich habe keine Ahnung, woher es kam oder wohin es irgendwann verschwand; es wurde von Zelle zu Zelle gereicht, damit die Wärter es nicht fanden. Wenn es so weit war, dass es weiterwandern musste, wurde es in eine Wollmütze gesteckt und abgegeben.
Die kleine Katze wollte anscheinend immer nur schlafen. Das Problem war, dass sie sich aufführte wie ein verwöhntes Baby und gehalten werden wollte, wenn sie schlief.
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