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Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Titel: Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Damien Echols
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kann nicht mehr. «
    Ich wandte mich ab und wanderte davon wie einer, der einen Unfall erlitten hat. » Wandern « ist der treffende Ausdruck, denn ich ging nirgendwohin. Ich ging einfach. Wanderte und wanderte und wanderte. Es sollte mein Hobby werden, ich war der Forrest Gump von Arkansas.
    Die Nächte waren am schlimmsten. Jede Nacht wachte ich schluchzend auf, weil ich geträumt hatte. Es war im Großen und Ganzen immer der gleiche Traum mit kleinen Abweichungen: Deanna kommt zu mir und sagt, es sei alles ein Irrtum, sie sei wieder da, und der Schmerz würde sich auflösen. Es war so real, dass ich nach dem Aufwachen fast wahnsinnig wurde.
    Und nicht nur damit musste ich fertigwerden, sondern auch mit Jack, der seinen Job aufgegeben hatte und dauernd zu Hause war. Er ging nicht mehr aus, und mehr noch, er verließ das Sofa nicht mehr. Hass schwärte in ihm, und er machte allen das Leben zur Hölle. Wenn er sprach, dann nur, um jemanden anzugiften. Er und meine Mutter hatten ständig Streit. Sie klagte jede Woche über ein neues Leiden, weil der Stress sie strapazierte. Am schwersten machte Jack es uns allen immer beim Abendessen. Dann saß er mit hasserfülltem Blick am Tisch, und wehe, jemand sagte ein Wort. Ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, aber das war unmöglich. Er sorgte dafür, dass alle andern genauso mies drauf waren wie er. Wenn er dabeisaß, war es schwer, auch nur einen Bissen herunterzubekommen, von einer ganzen Mahlzeit gar nicht zu reden. Meine Schwester behauptet, er habe sie in dieser Phase sexuell belästigt, aber davon habe ich damals nichts bemerkt.
    Ich hielt mich nach Möglichkeit fern. Im Grunde war es mir egal, wo ich war; ich wanderte einfach von hier nach da und hoffte, den Schmerz abzustumpfen. Ich fing an zu rauchen, denn anfangs half das Nikotin mir beim Einschlafen. Später hielt es mich wach.
    Die Trauer lässt einen manchmal seltsame Dinge tun. Mich hat sie dazu gebracht, ein Kürbisbeet anzupflanzen. Ich pflegte es aber nicht wie ein Farmer, sondern ließ es einfach wild wachsen wie ein Baby, das von Wölfen großgezogen wird. Ich hatte jeden einzelnen Liebesbrief von Deanna aufgehoben, als wären es unbezahlbare Kostbarkeiten. Vielleicht waren sie das auch in gewisser Weise. Im Laufe der Jahre habe ich mir das Hirn zermartert, um mich daran zu erinnern, was auf diesen Seiten gestanden hat, aber es gelingt mir nicht. Ob diese Briefe spielerisch, leidenschaftlich oder sehnsuchtsvoll waren, werde ich nie mehr wissen. Nicht dass es noch besonders wichtig wäre, aber offensichtlich würde ich mich gern daran erinnern, weil ich sie einmal für so wichtig gehalten habe.
    Ich musste mir eine Tür erschaffen, durch die ich die Zukunft betreten und die Vergangenheit hinter mir lassen konnte. Ich brauchte einen Schlussstrich. Ich wanderte durch meine Tage, grüblerisch und mürrisch, ratlos und mit gebrochenem Herzen. Mein Lieblingsfesttag, Halloween, kam und ging. In diesem Jahr empfand ich nichts von der Aufregung und den Möglichkeiten, wie diese Jahreszeit sie sonst bot. Sie machte mich nicht glücklich. Normalerweise war Halloween wie Weihnachten für mich. Ich freute mich wochenlang darauf, schmückte mich und das Haus und spazierte in der Nachbarschaft herum, um die Dekorationen der anderen zu sehen. Nichts finde ich so anregend wie eine Vogelscheuche im Vorgarten.
    Die Luft hatte eine magische Frische, die zum Rascheln des Laubs auf dem Boden passte. Eins der Dinge, die ich immer am meisten geliebt habe, war es, vorn auf der Veranda zu sitzen und die duftende Luft zu atmen, während ich Süßigkeiten verteilte. Das Verteilen hat mir immer mehr Spaß gemacht als das Sammeln. Aber in dem Jahr besänftigte mich nicht einmal das.
    Ein paar Tage nach Halloween war ich bei Jason zu Hause. Er saß auf der Couch und starrte stumpf auf den Fernseher, während ich in der Küche herumlief. Eine alte Schulschachtel auf dem Tisch fiel mir ins Auge. Es war ein Kasten von der Sorte, die Grundschulkinder benutzen, um Malkreide, Klebstoff und Stifte aufzubewahren. Sie sah abgenutzt aus, und der Deckel fehlte. Darin lag eine große Menge Kürbiskerne, die von der Matriarchin der Familie dort verwahrt worden waren, als sie die Kürbislaterne schnitzte. » Wofür sind die? « , rief ich, griff mir eine Handvoll und ließ sie in den Kasten rieseln wie Goldmünzen. Er schaute herüber, zuckte die Achseln und sah weiter fern. Ich steckte mir eine Handvoll in die Jackentasche.
    Ich blieb bis tief in

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