Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
wie meine, und ihr schulterlanges Haar war so schwarz wie meins, ohne dass sie mit Farbe nachgeholfen hätte. (Im Laufe der Jahre ist vielerorts fälschlich behauptet worden, ich hätte mein Haar schwarz gefärbt. Aber es ist von Natur aus schwarz.) Ihre Hose war so eng, dass manche sie als vulgär bezeichnet hätten, und von der tief ausgeschnittenen Bluse konnte man nur sagen, dass sie zu der Hose passte. Sie hatte eine Handvoll Programme für das Chorkonzert, und ich lehnte ab, als sie mir eins entgegenhielt.
Ich bin an diesem Abend nicht in das Chorkonzert gegangen, sondern draußen geblieben bei diesem Mädchen, das Wolken von Sex verströmte. Er umgab sie wie statische Elektrizität und war in jeder Geste – wie sie zu nah bei mir stand und zu mir aufsah, wie sie den Arm unter meinen hakte und wie sie beim Reden die Hüfte zur Seite schob. Sie schien es nicht unter Kontrolle zu haben, wie eine rollige Katze. Es lag nicht an mir, dass sie sich so verhielt – sie tat es bei jedem Mann. Ich verbrachte den Abend damit, sie zu unterhalten, und zweimal rief ihr Lachen jemanden zur Tür, der uns einen warnenden Blick zuwarf.
Sie hieß Deanna, und sie teilte mir mit, wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, mich umzudrehen, hätte ich sie in der Schule in mindestens drei meiner Kurse sehen können. Ich begriff nicht, wie ich fast zwei Wochen lang mit ihr in einem Raum sitzen konnte, ohne ihre Anwesenheit zu bemerken. Nach diesem Abend aßen wir jeden Mittag zusammen. Anfangs saßen wir allein an unserem Tisch, aber nach und nach bildete sich eine kleine, aber treue Gruppe von Leuten um uns herum: andere Pärchen, zwei jüngere Schüler, die angefangen hatten, meine Kleidung nachzuahmen, und ein großer Gentleman namens Joey, der behauptete, er sei mein » Bodyguard « .
Abends ging ich oft zu Deanna nach Hause. Ihre Familie war sehr nett, eine anständige, ruhige Südstaatenfamilie. Sie luden mich in ihr Haus ein und ließen mich an ihrem Alltag teilnehmen. Manchmal sahen wir uns Filme an, wir spielten etwas oder hörten Musik. Härteres als Countrymusic war in diesem Haus nicht erlaubt, und das Einschalten von MTV war ein Verstoß, für den Deanna und ihre Schwestern Hausarrest bekamen. Ihre Eltern konnten sehr streng und manchmal auch intolerant sein. Nach dieser ganzen üblen Geschichte hielt ich sie eher für böse Tyrannen, die ihre Kinder zwangen, eine bestimmte Religion zu schlucken, und sie mit eiserner Faust beherrschten. Ich halte diese Beschreibung in vieler Hinsicht immer noch für zutreffend, und ich habe oft gehört, wie Deanna vom Hass auf ihre Mutter sprach. Doch die vielen Jahre, die seither vergangen sind, haben mir einen anderen Blickwinkel auf die Sache verschafft. Heute weiß ich, sie sorgten für ihre Kinder, so gut sie es eben konnten. Ich sehe heute beide Seiten der Medaille.
Zuerst akzeptierten sie mich als Teil der Familie. Mir war nicht klar, welche Ehre mir zuteilwurde, denn ich hatte so etwas noch nie erlebt. Noch nie hatte ich die Familie einer Freundin kennengelernt. Ich wurde zu allen Familientreffen eingeladen, was mittlerweile so lange her ist, dass die meisten Erinnerungen verblasst sind, aber das Gefühl ist noch da. Ein paar besonders intensive Momente habe ich noch vor Augen. Zum Beispiel war ich auf ihrer Weihnachtsparty dabei, und Deanna schenkte mir einen Stoffgorilla und eine Dose Hershey’s Kisses. Wir saßen vor dem Kamin und aßen die Schokolade, während der Rest der Familie lachend um uns herum feierte.
Deanna war insgeheim Paganistin, wie sie mir erzählte: das, was man früher als Hexe bezeichnete. Die Religion, der sie angehörte, hieß Wicca. Ich hatte diesen Ausdruck noch nie gehört. Über » Hexen « wusste ich nur das, was ich in den alten Büchern gelesen hatte: Sie flogen zu Versammlungen, wo sie mit dem Teufel tanzten, sie belegten die Ernte mit einem Fluch, und sie bewirkten, dass Babys mit Muttermalen zur Welt kamen. Ich kannte nur den Unsinn, den die katholische Kirche seit der Inquisition verbreitete: dass alle Religionen außerhalb des Christentums bestenfalls irregeleitet und schlimmstenfalls satanisch sind. Deanna hatte ein kleines grünes Notizbuch, in dem alles Mögliche stand: die Namen von alten, vorchristlichen Göttinnen, Pflanzen und ihre medizinischen Zwecke, Gebete in blumigen Versen.
Das war, kurz bevor Wicca in den Vereinigten Staaten explosionsartig an Popularität (und Notorität) gewann. Heutzutage werden zahllose Bücher über dieses
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