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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Befreiung mit Sicherheit umgekommen. Aber das Unglaubliche geschah: Das Häuschen wurde schließlich doch nicht gesprengt. Es war wohl nicht mehr nötig, oder es war schon zu spät.
    Anfang September 1944 gab es keinen Zweifel mehr, daß die deutsche Besatzung nur noch wenige Tage dauern würde. Am 7. September war morgens gegen neun Uhr ein ungeheuerlicher Kriegslärm zu hören, alles bebte – und unsere Laune wurde immer besser: Nie habe ich Krach mehr genossen, nie hat mir Lärm mehr gefallen. Denn das war die Rote Armee, das war ihre von uns erwartete, erhoffte, ersehnte Offensive. Schon nach einer Viertelstunde war unser Haus zwischen den Fronten: Aus dem Fenster der westlichen Seite sah man, erschreckend nahe, deutsche Artilleristen, auf der östlichen in einiger Entfernung – wir trauten unseren Augen nicht – tatsächlich russische Infanteristen. Diese höchst bedrohliche Lage dauerte nicht lange, etwa eine halbe Stunde. Dann pochte jemand kräftig, offenbar mit einem Gewehrkolben, an die Haustür. Zitternd und mit erhobenem Haupt öffnete Bolek die Tür. Vor ihm stand ein müder russischer Soldat und fragte laut: »Nemzew njet…?« – »Keine Deutschen hier?« Wo wir fünfzehn Monate unentwegt fürchten mußten, jemand würde an die Tür klopfen und fragen: »Keine Juden hier?«, wo diese Frage noch vor einer Stunde für uns den Tod bedeutet hätte, da wurden jetzt Deutsche gesucht.
    Bolek verneinte und rief mich. Er nahm an, mir würde es eher gelingen, mich mit dem russischen Soldaten zu verständigen. Dieser schaute mich scharf an und fragte: »Amchu?« Ich hatte keine Ahnung, daß es sich um ein in Rußland gebräuchliches Wort handelt (es bedeutet etwa: »Gehörst du auch dem Volk an?«), mit dem sich Juden vergewissern, daß ihr Gesprächspartner ebenfalls Jude sei. Da er meine Ratlosigkeit sah, formulierte er die Frage direkt: Ob ich ein »Jewrej« sei? Dies ist die russische Vokabel für »Hebräer«. Ich antwortete rasch: »Ja, ich, Hebräer.« Lachend sagte er: »Ich auch Hebräer. Mein Name Fischmann.« Er drückte mir fest die Hand und versicherte, er werde bald wiederkommen, jetzt aber habe er es eilig: Er müsse dringend nach Berlin.
    Waren wir also frei? Bolek meinte, wir müßten noch über Nacht bleiben, denn die Russen könnten ihre Front zurückziehen, und die Deutschen, der Teufel soll sie holen, könnten vorübergehend wiederkommen. Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns: Zwei geschwächte, ausgehungerte, jämmerliche Menschen machten sich auf den Weg. Bolek murmelte: »Wir werden euch niemals wiedersehen.« Doch schien mir, daß er bei diesen Worten freundlich lächelte. Genia fuhr ihn an: »Red keinen Scheißdreck!«
    Wir wollten schon aufbrechen, da sagte Bolek: »Ich hab hier etwas Wodka, laßt uns ein Gläschen trinken.« Ich spürte, daß er uns noch etwas mitzuteilen hatte. Er sprach ernst und langsam: »Ich bitte euch, sagt niemandem, daß ihr bei uns gewesen seid. Ich kenne dieses Volk. Es würde uns nie verzeihen, daß wir zwei Juden gerettet haben.« Genia schwieg. Ich habe lange gezögert, ob ich diesen erschreckenden Ausspruch hier anführen soll. Wir, Tosia und ich, haben ihn nie vergessen. Aber wir haben auch nie vergessen, daß es zwei Polen waren, denen wir unser Leben verdankten, Bolek und Genia.
    Wir standen auf und verabschiedeten uns noch einmal. In wessen Augen gab es damals Tränen? In Boleks oder Genias? In Tosias Augen oder in meinen? Ich weiß es nicht mehr. Erst nach zwei oder drei Monaten konnte ich Bolek und Genia besuchen. Ich war damals beim Militär und trug einen Offiziersmantel. Bolek sah mich nachdenklich an und sagte knapp: »Ich habe also der polnischen Armee einen Offizier geschenkt.«
    Wir hatten Bolek und Genia versprochen, daß wir uns nach dem Krieg, sollten wir ihn in ihrem Haus überleben, schon auf eine angemessene Weise materiell erkenntlich zeigen würden. Bis heute sind wir in Kontakt mit der einzigen Überlebenden der Familie, mit der Tochter von Bolek und Genia. Aber ist es möglich, ist es vorstellbar, auf eine angemessene Weise das Risiko zu vergelten, das die beiden eingegangen sind, um unser Leben zu retten? Nein, es war nicht die Aussicht auf Geld, die Bolek und Genia veranlaßte, so zu handeln, wie sie gehandelt haben. Es war etwas ganz anderes – und ich kann es nur mit großen längst abgegriffenen Worten sagen: Mitleid, Güte, Menschlichkeit.

 
DRITTER TEIL
 
von 1944 bis 1958

 
Der erste Schuß, der letzte

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