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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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richtig hielt, uns Jüdisches zu bieten.
    Ließ uns diese harmlose Sympathiekundgebung schon spüren, was uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten bevorstand? Ein Frankfurter Taxifahrer überrascht mich mit der Frage: »Kennen Sie Herrn Isaak Goldblum?« Ich verneine, er sagt: »Sie sehen ihm ähnlich.« Ich steige am Hamburger Flughafen in ein Taxi ein. Der Fahrer, ein Deutscher, fragt mich (nicht unfreundlich) »Kommen Sie aus Tel-Aviv?«
    Als mir diese Frage wiederholt gestellt wurde, habe ich mich nicht mehr mit der Antwort begnügt, ich käme aus München oder Stuttgart, aus Wien oder Stockholm, sondern gleich hinzugefügt: »Aber Sie haben schon recht, ich bin ein Jude.« Auf der Straße in Wiesbaden hält mich eine Frau an, sie wünscht ein Autogramm. Sie vergewissert sich: »Sie sind doch der Herr Bubis?« In einem Salzburger Restaurant möchte ich telefonieren, ein Stadtgespräch nur. »Ich dachte« – wird mir gesagt –, »Sie wollten Jerusalem anrufen.«
    Derartiges kam vor zwanzig oder dreißig Jahren ungleich häufiger vor. Doch noch unlängst wurde ich gefragt, was ich davon hielte, daß Israel die Palästinenser mißhandle. »Jeder Jude ist für ganz Israel verantwortlich« – schrieb ein jüdischer Publizist vor dem Ersten Weltkrieg. Gilt das alles nur für Deutschland oder Österreich? Seit vielen Jahren verbringen wir unseren Urlaub meist in der Schweiz. Natürlich besuchen wir gern Lokale, zumal solche, in denen zur Unterhaltung der Gäste ein Pianist spielt. Kaum einer läßt es sich nehmen, uns auf besondere Weise zu begrüßen: Es ist so gut wie immer derselbe weltberühmte Schlager, der uns als Leitmotiv zugedacht wird – »If I were a Rich Man« (»Wenn ich einmal reich war’«) aus dem Musical »Fiddler on the Roof«, das in einem ostjüdischen Dorf spielt und in Deutschland unter dem Titel »Anatevka« bekannt ist, ein Werk, das ich, um es gelinde auszudrücken, weder liebe noch schätze. Aber ich winke dem Pianisten freundlich zu. Er meint es ja so gut – wie der Schauspieler, der auf dem sandigen polnischen Weg Gutzkows feierlichen Monolog rezitierte. Sind wir ungerecht, weil überempfindlich? Ja, gewiß. Überdies: Zwar haben wir es damals noch nicht gewußt, aber wohl schon geahnt: Wer zufällig verschont wurde, während man die Seinen gemordet hat, kann nicht in Frieden mit sich selber leben.
    Abends kamen wir endlich in dem Dorf an, in dem wir uns zu gestellen hatten. Am nächsten Tag meldete ich mich beim Ortskommandanten, wo sich gleich zeigte, daß die Propaganda-Einheit, die ich suchte, noch gar nicht existierte. Doch ihren künftigen Chef gab es schon: Es war ein Oberleutnant, was mich nicht beeindruckte, und er hieß Stanislaw Jerzy Lee, was mich, der ich schon eine Uniform trug, respektvoll die Hacken zusammenschlagen ließ – im Geiste natürlich. Denn Lee, ein im noch österreichischen Lemberg geborener Jude, gehörte vor dem Krieg zu den besten polnischen Satirikern der jungen Generation. Er war ein Poet und ein Schalk, ein Meister mit der Narrenkappe. Er war ein Bursche von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen – wie der arme Yorick, der königliche Spaßmacher, dessen Totenschädel Hamlet zu Tränen rührte.
    Lee, der damals 35 Jahre alt war und mir ein wenig korpulent vorkam, residierte in einer bejammernswerten Bauernhütte. In seiner Stube befanden sich: ein einziger Stuhl, ein kleiner Tisch und ein Bett. Auf dem Stuhl saß er, der Oberleutnant, in einer nagelneuen Uniform. Er war in ein Manuskript vertieft und offensichtlich verärgert, daß ihn jemand störte. Ohne aufzublicken, fragte er mich militärisch knapp: »Können Sie Deutsch?« Dann stellte er mir ohne Übergang eine unerwartete, eine beinahe unglaubliche Frage. In diesem gottverlassenen Nest inmitten von scheußlichen Sümpfen und düsteren Wäldern wollte der Oberleutnant der Polnischen Armee Stanislaw Jerzy Lee von mir wissen: »Kennen Sie Brecht?« Ich sagte: »Ja«, und da er mir offenbar nicht recht traute, kam gleich die nächste Frage: »Was?« Ich zählte einige Titel auf. Jetzt erst blickte er mich an, sein Gesicht hellte sich auf: Daß jemand in dieser abscheulichen Einöde von der »Hauspostille« gehört hatte und vom »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« – damit hatte er nicht gerechnet. Wir beide, Lee und ich, wir waren, dessen bin ich beinahe sicher, die einzigen in der ganzen polnischen Armee, die den Namen Brecht kannten.
    Ich mußte mich auf das Bett

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