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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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für unsere selbstverständliche Pflicht, im Rahmen unserer Möglichkeiten wenigstens im letzten Augenblick zum Kampf gegen jene beizutragen, die die Unsrigen ermordet und uns gepeinigt hatten. Daß man im Militär zu essen bekam und überdies eine Uniform, mag dabei auch eine Rolle gespielt haben.
    Ein Militärarzt untersuchte uns. Wir wurden abgelehnt – weil unterernährt und abgemagert, weil viel zu schwach. Immerhin fragte uns ein verwunderter Personalreferent, womit wir uns in der Armee denn nützlich machen könnten. Ich hätte, sagte ich, an eine Propaganda-Abteilung gedacht, zumal an eine Einheit, die deutsche Soldaten zur Kapitulation aufrufe und zu diesem Zweck Flugblätter in deutscher Sprache und ähnliche Materialien bearbeite. Daß einer, der in Berlin aufgewachsen war und dort bis Ende 1938 gelebt hatte, sich für eine solche Tätigkeit eignete, leuchtete ein. Und Tosia könne vielleicht, meinten wir, in einer graphischen Werkstatt – denn auch eine solche gab es in der Armee – arbeiten. Auch das leuchtete ein.
    Wir hatten uns durchgesetzt, wir wurden mobilisiert. Wieder mußten wir uns auf den Weg machen – zu der Einheit, der man uns zugeteilt hatte. Ein erbärmliches Dorf, gelegen inmitten einer trostlosen Einöde im östlichen Teil Polens, war unser Ziel. Mit verschiedenen Militärautos gelangten wir wenigstens in die Nähe dieses Dorfes. Den Rest des Weges, vier oder fünf Kilometer, hatten wir zu Fuß zurückzulegen.
    Erfreulicherweise waren wir nicht allein. Dasselbe Ziel hatte auch ein Zivilist. Sein schönes, allzu schönes Polnisch fiel mir auf. Er war, wie er uns gleich erzählte, ein Berufsschauspieler, den man zum Fronttheater kommandiert hatte. Es dauerte nicht lange, und er stellte seinen kleinen Koffer, einen Holzkoffer (Lederkoffer hatten in dieser Armee nur höhere Offiziere), auf die Erde, auf den schmalen Weg zwischen weiten Feldern und brachliegenden Ackern. Im Lichte der noch warmen Nachmittagssonne begann er zu deklamieren – laut, pathetisch und mit ausladenden Gebärden.
    Die Situation war unmißverständlich: Einer, der seinen Beruf lange nicht mehr hatte ausüben können, war glücklich, zwei, wie er vermutete, nicht ganz ungebildete junge Menschen als Zuhörer seiner Darbietung gefunden zu haben. Aber welchen Text hatte er für diesen spontanen Freilicht-Auftritt ausgewählt? Der Schauspieler sprach eine Rede aus dem historischen Drama »Uriel Acosta«, einem Werk des ehrenwerten, verdienstvollen deutschen Autors Karl Gutzkow. Das im neunzehnten Jahrhundert erfolgreiche Stück war vor dem Zweiten Weltkrieg bisweilen auch in Polen aufgeführt worden, wohl vor allem dem jüdischen Publikum zuliebe.
    Der im Mittelpunkt dieses Dramas stehende Philosoph Uriel Acosta, der jüdischer Herkunft ist, aber als Kind getauft wurde, wendet sich in seiner großen Rede vom Christentum ab und bekennt sich, stolz und trotzig, zum Judentum: »So will ich leiden mit den Leidenden – / Ihr dürft mir fluchen! Denn ich bin ein Jude!« Er hatte es gut gemeint, der Schauspieler, er wollte uns eine Freude bereiten. Dennoch war uns nicht ganz wohl. Warum? Wir wußten es vorerst nicht, jedenfalls nicht genau.
    Ludwig Börne beklagte sich einmal: »Es ist wie ein Wunder! Tausend Male habe ich es erfahren, und doch bleibt es mir ewig neu. Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei; die anderen verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran.« Mich verblüfft, daß Börne dies für »ein Wunder« halten konnte und sich damit nicht abfinden wollte. Schließlich stammt seine Äußerung aus dem Jahr 1832, es waren also seit der Emanzipation der Juden erst zwei Jahrzehnte vergangen. Es scheint mir selbstverständlich, daß ihm zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Umständen versagt bleiben mußte, wonach er sich sehnte: die normale Existenz als gleichberechtigter Bürger, das – wie die etwas ältere Rahel Varnhagen, geborene Levin, schrieb – »natürlichste Dasein«, dessen sich doch jede Bäuerin und jede Bettlerin erfreuen könne.
    Und im Herbst 1944? Noch wurde an allen Fronten gekämpft, noch waren die deutschen Streitkräfte sehr stark, der Holocaust gehörte noch keineswegs der Vergangenheit an, Auschwitz war noch nicht befreit. Und uns, die wir eilten, den Militärdienst anzutreten, die wir unser Ziel unbedingt vor Sonnenuntergang erreichen wollten, uns beunruhigte ein wenig, daß der brave polnische Provinzschauspieler, kaum war er uns begegnet, es für

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