Mein Leben
setzen. Dann gab mir der ungewöhnliche Oberleutnant, dessen Kommandoton schon etwas ziviler wurde, einige Blätter auf die ein längeres Gedicht von Brecht getippt war. Er werde mir die von ihm selber stammende polnische Übersetzung dieses Gedichts vorlesen. Ich solle prüfen, ob er alles einwandfrei verstanden und richtig übertragen habe. Dies war der erste Befehl, der mir in der polnischen Armee erteilt wurde. Sonderbar: Ob ich es wollte oder nicht, wohin ich kam, da war deutsche Literatur – gestern Gutzkow, heute Brecht.
Die Übersetzung war sehr gut. Um ihm aber zu beweisen, daß ich mich der Sache gewissenhaft annehme und mir die Materie nicht fremd sei, machte ich ihn auf zwei oder drei Stellen des gar nicht kurzen Gedichts aufmerksam. Sie seien zwar vorzüglich übersetzt, doch könne man sie vielleicht noch eine Spur besser machen; natürlich handle es sich bloß um Kleinigkeiten. Die Reaktion von Lee hat mich enttäuscht: Er war an meinen schüchternen Vorschlägen überhaupt nicht interessiert, er hörte mir kaum zu. Die Audienz wurde rasch beendet. Erst viel später habe ich begriffen, welches Mißverständnis hier vorgefallen war: Er wollte nicht, daß ich seinen Text kontrolliere oder gar korrigiere, sondern daß ich ihn lobe und bewundere, rühme und preise. 1944 hatte ich noch keine Erfahrungen im Umgang mit Schriftstellern.
Nach dem Krieg, als wir bisweilen in Warschau spazierengingen, und später, als Lee uns in Hamburg besuchte, da merkte ich, daß unsere Unterhaltungen immer wieder den gleichen Verlauf nahmen: Sie ähnelten dem Vorstellungsgespräch in jenem polnischen Dorf im Oktober 1944. Denn es gab für ihn stets nur ein einziges Thema: seine Gedichte, seine Aphorismen, seine poetischen Übersetzungen. Nie wollte er wissen, was sich in meinem Leben abspiele, womit ich mich beschäftige. Ein eitler, ein egozentrischer Mensch? Ich habe noch nie einen Schriftsteller kennengelernt, der nicht eitel und nicht egozentrisch gewesen wäre – es sei denn, es war ein besonders schlechter Autor. Die einen tarnen ihre Eitelkeit und verbergen ihre Egozentrik, andere bekennen sich zu diesen Schwächen ostentativ, mit Humor und ohne Pardon. Als Lee mit einem Kollegen von Warschau nach Wien flog, fragte ihn dieser nach der Ankunft, ob ihm nicht aufgefallen sei, daß er während des ganzen Fluges nur über sich selbst gesprochen habe. Lee antwortete mit einer kurzen Gegenfrage: »Kennst du ein besseres Thema?«
Vor bald einem halben Jahrhundert machten wir, Lee und ich, einen langen Spaziergang – vom Haus des Schriftstellerverbands in Warschau bis zum wunderbaren Lazienki-Park und zurück. Es ist der schönste Straßenzug der polnischen Hauptstadt. Lee sprach unentwegt – und ich, von dem behauptet wird, nicht besonders wortkarg zu sein, lauschte schweigsam und begnügte mich damit, ihm mit gelegentlichen Stichworten zu dienen. Alles, was er erzählte, interessierte und amüsierte mich – nicht zuletzt seine improvisierten und leider nie notierten deutschen Wortspiele. Nach einer Stunde etwa sagte er plötzlich: »Das geht nicht so weiter. Wir reden ja immer nur über mich. Jetzt wollen wir über Sie reden. Sagen Sie mal, wie hat denn Ihnen mein letztes Buch gefallen?« Ich habe diese Äußerung vielen Kollegen erzählt, man hat sie immer wieder zitiert und oft auch anderen Autoren zugeschrieben: So entstand eine internationale, eine schon klassische Wanderanekdote.
In Deutschland gehörte Lee in den sechziger und siebziger Jahren zu den wenigen erfolgreichen, ja fast berühmten polnischen Autoren. Das ungewöhnliche Echo verdankte er nicht seiner sehr beachtlichen Lyrik, sondern einzig und allein seinen Aphorismen: Die »Unfrisierten Gedanken« von Lee, mit denen er an eine deutsche Tradition – von Lichtenberg über Heine und Schopenhauer bis zu Karl Kraus – anknüpfte, wurden in der ausgezeichneten Übersetzung von Karl Dedecius in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet und unzählige Male in Zeitungen nachgedruckt.
Meine Kontakte mit Lee erreichten ihren Höhepunkt im Jahre 1964. Ich erfreute mich zu jener Zeit seiner aufrichtigen Sympathie, er war mir vielleicht sogar in Herzlichkeit zugetan, er schätzte mich, ja, es ist möglich, daß er mich damals für einen hervorragenden Kritiker hielt. Das hatte nur einen einzigen Grund: In der »Zeit« war meine begeisterte Besprechung seiner »Unfrisierten Gedanken« erschienen. Es war, glaube ich, die erste und letzte Kritik aus meiner Feder,
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