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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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die er gelesen hat. Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu: Was ein Autor von einem Kritiker hält, hängt davon ab, was dieser Kritiker über ihn, zumal über sein letztes Buch, geschrieben hat. Habe ich auch das von Lee gelernt?
    Er ist nicht alt geworden. Der Krebskranke hat beinahe bis zum letzten Augenblick an seinen Manuskripten gearbeitet, aber nur beinahe: Als man ihm Anfang Mai 1966 – er befand sich in einem Sanatorium in der Nähe von Warschau – die Druckbögen seines neuesten Buches zur Korrektur brachte, winkte er ab: »Jetzt habe ich Wichtigeres zu tun. Ich beschäftige mich mit dem Sterben.« Wenig später starb er. »Schade, daß man ins Paradies mit einem Leichenwagen fährt«, heißt es in seinen »Unfrisierten Gedanken«. Und: »Die Uhr schlägt – alle.«
    Auf seiner Beerdigung haben hervorragende Schriftsteller die Ehrenwache gehalten, eine Ehrenkompanie war im Paradeschritt aufmarschiert und präsentierte das Gewehr, Salutschüsse wurden abgefeuert, ein junger Lyriker trug ein Samtkissen mit den Orden des Verstorbenen. Einen Schalk und Narren hat man wie einen Helden zu Grabe getragen. Ja, Polen ist ein sonderbares, ein originelles Land. Ob Stanislaw Jerzy Lee wirklich ein Held war – ich weiß es nicht. Aber er war, dessen bin ich sicher, der weitaus bedeutendste europäische Aphoristiker in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts.
    Aus meinem Dienst in der Propaganda-Einheit, die Lee aufbauen sollte, ist nichts geworden. Denn wenige Tage nach meinem ersten Gespräch mit ihm kam ein Befehl, daß die polnische Armee auf diese Einheit verzichten werde – was ich sehr bedauerte. Wahrscheinlich war sie den Russen nicht genehm. Nun waren wir, Tosia und ich, schon mobilisiert, also mußte man uns irgendwie verwenden. Der Personalreferentin, die sich darüber Gedanken machte – es gab viele Frauen in der polnischen Armee –, fiel auf, daß wir mehr oder weniger gut drei Fremdsprachen beherrschten. Sie schickte uns zur militärischen Postzensur, die in einem benachbarten Dorf organisiert wurde.
    Wir waren nicht unzufrieden. In seinen »Unfrisierten Gedanken« fragt Lee: »Worte seien überflüssig? Und wo brächte man unter, was zwischen den Worten steht?« Das sollten wir suchen: Was zwischen den Worten und zwischen den Zeilen verborgen war. Wir hatten in Briefen und Postkarten – für Bücher und Zeitungen war diese Zensur nicht zuständig – einen geheimen Inhalt aufzudecken, den doppelten Boden ausfindig zu machen. Das schien uns eine überaus reizvolle Aufgabe. Später habe ich erfahren, daß bekannte Schriftsteller während des Krieges an Feldpostbriefen interessiert waren und gelegentlich die Zusammenarbeit mit der militärischen Zensur suchten – so in der habsburgischen Armee Robert Musil, so in der Wehrmacht Ernst Jünger.
    Doch wie sollte es uns ohne entsprechende Ausbildung gelingen, das Verborgene, das Chiffrierte zu entschlüsseln? Wir würden es schon erlernen, unseren Kommandanten seien bestimmt raffinierte Methoden bekannt, um jenen, die die Feldpost für ihre dunklen Machenschaften mißbrauchen wollten, auf die Spur zu kommen. Unsere Arbeit in der Militärzensur würde, darüber waren wir uns im klaren, höchsten Scharfsinn erfordern. Nun, tröstete ich mich, wir würden es schon schaffen. Bald stellte sich heraus, daß alles etwas anders war, als wir es in unserer Naivität vermutet hatten. Im Laufe der nächsten Tage trafen in dem Dorf, in dem die Zensur-Einheit stationiert war, die ihr zugeteilten Soldaten ein. Wir waren verwundert und rasch nahezu sprachlos: Denn die jungen Bauernsöhne, die kamen, fielen durch schlichte Geistesart auf. Während der fünf Jahre deutscher Besatzung in Polen war eine Generation von Halbanalphabeten herangewachsen, jedenfalls von Menschen, deren Allgemeinbildung minimal war – und gerade das hatten ja die deutschen Behörden gewollt.
    Was sollten diese Burschen in einer so delikaten Institution wie der Zensur? Es würden bestimmt auch Wachtposten benötigt werden. Nur gab es jetzt weit und breit immer bloß Wachtposten zu sehen. Tatsächlich – wir erfuhren es rasch – sollten diese simplen Soldaten als Zensoren fungieren. Das war die erste Überraschung. Die zweite: Sie waren gar nicht so schlechte Zensoren. Denn für diesen Beruf sind Fleiß und Gewissenhaftigkeit nötiger als Bildung und Intelligenz. Die Zensur hatte vor allem zu prüfen, ob in den Briefen – sie stammten meist von jungen Soldaten, die nach Hause

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