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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Assistentin. Es war, wiederum ohne Zweifel, die Frau, mit der mein Bruder schon im Getto zusammengelebt hatte.
    Der Soldat hatte sich später nach dem, wie er hinzufügte, so sympathischen Zahnarzt erkundigt: Dieser sei, zusammen mit seiner Freundin, zu den Gruben gejagt worden. Aber die Deutschen haben die beiden wohl nicht erschießen können. Denn sie hatten Zyankali. Warum, frage ich noch einmal, mußte er sterben, warum durfte ich am Leben bleiben? Ich weiß, daß es hierauf nur eine einzige Antwort gibt: Es war purer Zufall, nichts anderes. Doch kann ich nicht aufhören, diese Frage zu stellen.
    Als uns am 9. Mai 1945 in Warschau die Nachricht erreichte, daß im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Streitkräfte unterzeichnet worden sei und damit der Zweite Weltkrieg beendet war, forderten uns einige fröhliche und glückliche Kollegen auf, mit ihnen in den Hof zu gehen. Es sei Zeit, sagten sie, für einen Salut gen Himmel. Wir entsicherten unsere Pistolen. Dann schossen meine aufgeräumten und übermütigen Kollegen gleichzeitig in die Luft. Einen Augenblick später richtete auch ich meine Pistole auf den blauen und sonnigen, den unbarmherzigen und grausamen Himmel, und dann drückte ich ab. Es war mein erster und letzter Schuß im Zweiten Weltkrieg, der erste und letzte in meinem Leben.
    Tosia stand neben mir. Wir schauten uns schweigend an. Wir wußten genau, daß wir das gleiche empfanden: Nein, nicht Freude empfanden wir, sondern Trauer, nicht Glück, sondern Wut und Zorn. Ich blickte noch einmal nach oben und sah, daß eine Wolke aufgezogen war, dunkel und schwer. Ich spürte: Diese Wolke über uns, sie würde sich nie verziehen, sie würde bleiben, unser Leben lang.

 
Von Reich zu Ranicki
     
    Wenn mich 1945 jemand gefragt hätte, welchen Beruf ich ausüben möchte und wo ich zu leben gedenke, wie ich mir also meine Zukunft vorstelle – ich glaube, ich hätte mich bemüht, meine Ratlosigkeit zu verbergen, und wäre schließlich die Antwort schuldig geblieben. Der Auslandszensur, die meine ganze Zeit in Anspruch nahm, wurde ich rasch überdrüssig. Der Krieg war beendet, vom Frieden spürte man zunächst nicht viel, aber natürlich würde man die Postzensur früher oder später auflösen. Es war höchste Zeit, mir zu überlegen, was aus mir werden solle.
    Doch zu meiner Überraschung erfuhr ich – es war im Jahre 1945 –, daß es in Warschau noch jemanden gab, der sich Gedanken über meine Zukunft machte. Im Ministerium für Öffentliche Sicherheit, dem die Zensur unterstand, hatte ein Major von mir gehört. Er interessierte sich für mich, und zwar im Namen der Institution, in der er arbeitete: des polnischen Geheimdiensts, genauer: der Auslandsabteilung des Nachrichtendiensts. Verwunderlich war das nicht. Denn man suchte jetzt in der Armee Leute, womöglich junge Intellektuelle, die Fremdsprachen beherrschten und die sich im Ausland, zumal in Deutschland, auskannten.
    Wenn ich mich damals, noch im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland, dem Ruf polnischer Behörden, im Auslands-Nachrichtendienst zu arbeiten, verweigert oder entzogen hätte – ich hielte es für einen Fleck in meiner Biographie. Ich müßte auch heute noch den Blick zu Boden senken. Hinzu kommt: Man brauchte mich für eine ganz besondere Arbeit. Mir, der ich so lange untätig war, schmeichelte dies. Bevor ich über das Angebot informiert wurde, gefiel es mir schon, wenn auch vorerst in Grenzen. Mich reizte eine Tätigkeit, die mit einer besonderen Aura umgeben war, ein dunkler und heikler Lebensbereich, eine von der Literatur und vom Film mythologisierte Sphäre. Also Abenteuerlust? Selbstverständlich spielte sie bei der Entscheidung, die mir bevorstand, eine wichtige Rolle. Nur war da bald nichts mehr zu entscheiden.
    Denn wohin wollte man mich schicken? Hätte man mich mit Rom oder Madrid zu locken versucht, ich hätte wohl gezögert und mir alles genau überlegt. Aber das Angebot lautete: Berlin. Da war’s um mich geschehn. Um Berlin wiederzusehen – wer weiß, vielleicht hätte ich einen Pakt auch mit dem Teufel geschlossen. Der polnische Geheimdienst hat meinen dringendsten Wunsch erfüllt: Das besiegte, das in die Knie gezwungene Deutschland faszinierte mich mehr als irgendein Land auf Erden, ja, ich wollte unbedingt nach Berlin fahren. Sollte mir die Zerstörung der Stadt, von der das ganze Unglück ausgegangen war, jetzt Genugtuung bereiten? Hatte ich

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