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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Beiträgen dieser Germanisten – Heinz Politzer etwa, Peter Demetz, Gerhard Schulz oder Wolfgang Leppmann und später Ruth Klüger – war mir besonders gelegen.
    Bald kamen, fast täglich, unverlangte Zusendungen von sehr unterschiedlichen Professoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. In den meisten Fällen erwiesen sie sich als unverwendbar, was aber keineswegs immer und nicht unbedingt an ihrer Qualität lag. Nur waren diese bisweilen nützlichen Arbeiten als Vorträge oder Vorlesungen konzipiert oder als Vorworte zu Büchern – und eben deshalb für die Tageszeitung ungeeignet. Dennoch hat mich gerade ein solcher Beitrag, ein Nachwort, auf einen außerordentlichen Germanisten aufmerksam gemacht.
    Im März 1982 war Goethes 150. Todestag. Aus diesem Anlaß hatten die Verlage der deutschsprachigen Länder den Markt mit Büchern von und über Goethe überschwemmt. Es war unmöglich, alle diese Publikationen zu besprechen, und es war undenkbar, sie allesamt zu ignorieren. Also beschloß ich, einen Sammelartikel mit Empfehlungen, Hinweisen und Warnungen zu schreiben. Er sollte auf höchstens zehn ausgewählte Bände eingehen.
    Unter den vielen Neuerscheinungen fand sich ein stattlicher Band mit dem Titel »Goethe erzählt« und mit dem nicht alltäglichen Untertitel »Geschichten, Novellen, Schilderungen, Abenteuer und Geständnisse«. Ich begann das Nachwort zu lesen. Im ersten Absatz hieß es, dies sei »ein Buch für unbekümmerte Leser«; es sei »für die Neugierigen, die Beweglichen, die sich einmal ohne Rücksicht auf die kursierenden Vorstellungen vom Klassiker dieser erzählenden Stimme aussetzen wollen«.
    Schon nach der Lektüre der ersten Seite, vielleicht sogar des ersten Absatzes bat ich meine Sekretärin, sich beim Artemis Verlag in Zürich sofort zu erkundigen, was dieser Herausgeber, dessen Namen ich noch nie gehört hatte, beruflich tue und wo man ihn erreichen könne. Noch hatte ich das Nachwort, das mir von Seite zu Seite besser gefiel, nicht zu Ende gelesen, da erhielt ich schon die erwünschte Auskunft: Der Herausgeber des Goethe-Bandes, Peter von Matt, sei Ordinarius für Neue deutsche Literatur an der Universität Zürich. Damit hatte ich nicht gerechnet. Denn für »unbekümmerte Leser«, gar für solche, die von den »kursierenden Vorstellungen vom Klassiker« nichts wissen wollen, pflegten Ordinarien nicht zu schreiben. Gleich war ich sicher, einen neuen, einen vorzüglichen Mitarbeiter gefunden zu haben. Ich habe mich nicht geirrt.
    Kummer bereitete mir die Kritik der Poesie. Die Besprechungen von Gedichtbänden in der »Frankfurter Allgemeinen« und auch in anderen großen Blättern waren oft gründlich und gelehrt und vielleicht auch gerecht. Indes hatten sie (natürlich nicht immer, doch in vielen Fällen) einen fatalen Fehler: Sie waren, mit Verlaub, etwas langweilig – und sind es bisweilen heute noch. Man sollte die Schuld nicht nur bei den Rezensenten suchen, das liegt auch an der Materie. Gewiß, es läßt sich über neue Poesie seriös und zugleich amüsant schreiben, doch ist es meist sehr schwer. Denn ohne Textbeispiele (und zwar viele) hat die Kritik der Lyrik keinen Sinn. Indes sind es häufig gerade die Verszitate, die die Lesbarkeit der Besprechungen beeinträchtigen.
    »Schlechte Zeit für Lyrik« ist ein Gedicht von Brecht betitelt. Das war in den dreißiger Jahren. Daran hatte sich inzwischen so gut wie nichts geändert. Etwas mußte also für die Dichtung getan werden – und zwar nicht ein- oder zweimal, sondern ständig. So kam ich auf die Idee, die bisherige Lyrikkritik durch eine allwöchentlich erscheinende Rubrik zu ergänzen. Nur sollten nicht Lyrikbände vorgestellt werden, sondern einzelne Gedichte, und zwar aus allen Epochen der deutschen Poesie. Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, Lyriker und Kritiker sollten sich als Interpreten betätigen. Ich bat sie immer wieder und leider nicht immer mit Erfolg, möglichst persönlich zu schreiben. So entstand die »Frankfurter Anthologie«.
    In der »Frankfurter Allgemeinen« zeigte man zunächst kein besonderes Interesse an meinem Projekt, aber man widersetzte sich ihm auch nicht. Einer der Herausgeber der Zeitung, ein erfahrener und skeptischer Redakteur, meinte:
    »Wenn ihm so daran gelegen ist, dann lassen wir ihn ruhig diese Rubrik machen. Viel Platz wird es uns nicht kosten, denn mehr als drei oder vier Stücke wird er doch nicht zustande bringen.« Der erste Beitrag – über Goethes »Um
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