Mein mutiges Herz
Nötige anzueignen, um von der vornehmen Gesellschaft Englands akzeptiert zu werden, hatte Thor kaum mehr als ein paar Grundbegriffe gesellschaftlicher Umgangsformen gelernt.
Natürlich konnte er lesen und schreiben und sprach Englisch beinahe akzentfrei, weigerte sich aber strikt, sich vornehm zu kleiden, trug nur einfache, praktische Sachen, hatte noch nie einen Ball besucht und fand es lächerlich, herausgeputzt wie ein Pfau herumzustolzieren, wie er sich ausdrückte.
Er hatte zwar nicht den Wunsch, nach Draugr Island zurückzukehren, wo die Brüder geboren und aufgewachsen waren, wollte aber auch nicht in der Stadt leben. Deshalb arbeitete er im Hafen und auch in Kristas Verlag und war bestrebt, möglichst rasch Geld zu sparen, um sich ein Anwesen auf dem Land kaufen zu können. Leif hatte ihm zwar versichert, dass seine Anteile an Walhall Shipping ihm in naher Zukunft den Kauf von Land ermöglichen würden, aber Thor bestand darauf, sein Geld mit seiner Hände Arbeit zu verdienen. Er schien sich etwas beweisen zu wollen und nach etwas zu suchen, was er nicht preisgeben wollte.
Leif vermutete, sein Bruder suche unter anderem das Glück, das Leif in seiner Gemahlin und seinem Sohn gefunden hatte. Und er hoffte sehr, dass der Segen der Götter auch auf Thor lag und sie ihm die ideale Lebensgefährtin zuführen würden. Sobald ihm dieses Glück beschieden war, würde sich Thors Rastlosigkeit legen und ein rundum zufriedener Mann aus ihm werden.
Auch wenn sie im Wesen verschieden waren, glichen sich die Brüder in anderer Hinsicht. Beide Männer glaubten fest an Treue und Pflichterfüllung, Ehre und Mut. Leif würde seinem Bruder bedenkenlos sein Leben anvertrauen und wusste, dass Thor ebenso dachte wie er.
Thor stand breitbeinig unten am Anlegeplatz, der Wind zerrte an seinem dunklen Haar. Nun hob er den Kopf, entdeckte seinen Bruder und winkte ihm lächelnd zu. Leif winkte zurück.
Irgendwann würde Thor der Frau seines Lebens begegnen. Seiner Zukunft war gewiss Glück beschieden, da er unter dem Schutz der Götter stand, daran wollte Leif fest glauben. Mit diesen Gedanken begab er sich zur Anlegestelle. Als er den sehnsuchtsvollen Blick in den Augen seines Bruders wahrnahm, keimte allerdings leiser Zweifel in ihm auf.
3. KAPITEL
Lindsey versuchte, den Lärm der Betriebsamkeit im Verlag auszuschalten und sich auf die Überarbeitung ihres Artikels zu konzentrieren. Das Magazin ging morgen in Druck, und es gab noch viel zu tun.
Als die Glocke über der Eingangstür anschlug, hob sie den Kopf. Zwei grimmig dreinschauende Männer betraten die Halle und wurden von Bessie Briggs, der Schriftsetzerin, einer untersetzten Frau mit grau meliertem Haar, empfangen.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Der größere der Männer holte aus der Innentasche seines grauen Gehrocks etwas hervor, das aussah wie ein Ausweis. Lindsey begriff, dass es sich um Polizisten handelte. Angst durchfuhr sie.
„Ich bin Kommissar Bertram, und das ist meine Kollege Archer. Wir möchten mit einer gewissen Miss Lindsey Graham sprechen.“
Bessie bekam große Augen und wies mit dem Arm in Lindseys Richtung. „Dort drüben finden Sie Miss Graham. Ich melde Sie an.“
„Nicht nötig.“ Die Männer näherten sich Lindsey. Bertram, den ihr Bruder bereits erwähnt hatte, war von stämmiger Statur, hatte stechend schwarze Augen und schütteres, bräunliches Haar. Archer war untersetzt und korpulent, hatte buschige Augenbrauen und ein pockennarbiges Gesicht. Lindsey bemerkte, wie Thor sich auf Hörweite näherte, als die Polizisten ihr Büro betraten.
Er schien wie sein Bruder eine beschützerische Ader zu haben. Sie müsste ihn bitten, sich zu entfernen, da dieser Besuch ihn nichts anging, aber irgendwie brachte sie den Willen nicht auf. Thor lehnte sich in einiger Entfernung gegen die Wand und gab ihr mit seinem Blick zu verstehen, dass er da war, falls sie ihn brauchte.
Es war lächerlich. Der Mann hatte nicht die geringste Ahnung von der britischen Gesetzgebung, ganz zu schweigen vom Umgang mit Kriminalbeamten.
Sie wandte sich den Männern zu, die mit den Hüten in den Händen vor ihren Schreibtisch getreten waren. „Sie wünschen?“
„Mein Name ist …“
„Sie sind die Kommissare Bertram und Archer.“
„Richtig“, sagte Bertram. „Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen, Miss Graham. Vielleicht können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“
Sie wollte nicht allein mit den Polizisten sein. Alle Angestellten, außer Thor,
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