Mein mutiges Herz
bröckelte. Der Gestank nach Unrat und Kloake verpestete die Luft.
„Soll ich lieber mit der Frau sprechen?“, bot Thor an, als Lindsey den übel riechenden Pfützen auszuweichen versuchte, die den Saum ihres grauen Wollrocks beschmutzten.
„Nein, ich möchte persönlich mit ihr reden.“ Eigentlich hatte er nichts anderes erwartet. Lindsey fragte sich, ob er je mit ihrer Beharrlichkeit zurechtkommen würde, und stellte fest, dass sie sich das wünschte.
Thor führte sie mit einer Hand an ihrem Ellbogen die wackelige Stiege hinauf. Oben angekommen klopfte er an die verwitterte Tür, von der die Farbe abblätterte. Er musste mehrmals klopfen, bevor auf der anderen Seite schlurfende Schritte zu hören waren. Eine magere Frau mit stumpfen grauen Haaren öffnete die Tür einen Spalt.
„Mary Pratt?“, fragte Thor.
„Ja, die bin ich.“ Sie beäugte den Riesen ängstlich. Ihr Argwohn schien ein wenig abzuflauen, als sie die Frau hinter ihm wahrnahm. „Was wollen Sie?“
Lindsey trat vor. „Wir möchten Ihnen gerne ein paar Fragen stellen über den Mord, der vor Kurzem in dieser Straße begangen wurde.“
„Wer sind Sie?“
Lindsey bemühte sich um ein Lächeln. „Ich bin Reporterin und arbeite für die Frauenzeitschrift Heart to Heart . Wir beabsichtigen, einen Artikel über den Mord zu veröffentlichen.“ Ein besserer Grund für die Befragung fiel ihr im Augenblick nicht ein. „Wir brauchen nur ein paar Informationen.“
Die Frau schwieg, worin Lindsey ein Zeichen sah, fortzufahren. „Wir möchten gerne Näheres wissen über den Mann, den Sie gesehen haben, als er vom Tatort weggelaufen ist.“
„Er ist eigentlich nicht wirklich gelaufen … eher geschlendert oder gehüpft. Geradeso, als wäre er stolz auf das, was er getan hatte. Irgendwie sah er aus, als führe er etwas Böses im Schilde. Dass er einen Mord begangen hat, erfuhr ich erst später, als die Nachbarn darüber redeten.“
„Wie sah der Mann denn aus?“
„Er war was Besseres … vornehm gekleidet. Zylinder und feine Lederhandschuhe. Deshalb ist er mir überhaupt aufgefallen. Er passte nicht in unsere Gegend.“
„Verstehe.“
„Was können Sie uns sonst noch sagen?“, ergriff Thor das Wort.
„Na ja, er war groß und schlank und hatte helles Haar.“
„Ich dachte, er trug einen Hut“, warf Lindsey ein.
„Als ich ihn sah, trug er den Hut in der Hand und setzte ihn erst auf, als er um die Ecke bog.“
„Haben Sie sein Gesicht gesehen?“, fragte sie. „Wie sah er aus?“
„Das kann ich nicht genau sagen.“ Die Frau drehte sich um und wies mit dem Arm zu einem Fenster in ihrer Wohnung und dann auf die Straße. „Sie wurde dort hinten in dem Durchgang getötet. Ziemlich weit weg von meinem Fenster. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen.“
Lindseys Puls beschleunigte sich. „Wie können Sie dann so sicher sein, dass es sich um Rudolph Graham handelte?“
Die Frau hob ihre mageren Schultern. „Die Polizei sagte, dass er es war. Von der Größe her und der Figur, blondes Haar. Die müssen es doch wissen.“
„Vielen Dank, Mrs. Pratt.“ Lindsey drückte ihr eine Guinea in die schwielige Hand. „Sie waren uns eine große Hilfe.“
Die Frau grinste freundlich und zeigte schwarze Zahnlücken. „Schade, dass ich nicht lesen kann. Ich hätte meinen Namen gern in der Zeitung gesehen.“
Lindsey und Thor stiegen die wackeligen Stufen wieder nach unten. In der Kutsche konnte Lindsey ihre Aufregung nicht länger verbergen.
„Haben Sie das gehört, Thor? Sie hat das Gesicht des Mörders gar nicht gesehen. Es könnte jeder andere gewesen sein.“
„Das müssen Sie den Rechtsanwalt Ihres Bruders wissen lassen. Vielleicht reicht das aus, um Rudy aus der Haft zu entlassen.“
Aufgeregt sah sie ihn an. „Wir sollten sofort zu ihm fahren.“
Er nickte. „Welche Adresse?“
Sie nannte ihm die Nummer in der Threadneedle Street, und es dauerte nicht lange, bis die Karosse an einem dreistöckigen Ziegelbau vorfuhr. Lindsey stellte dem Rechtsanwalt Jonas Marvin Thor als Freund der Familie vor, der sie darin unterstützte, Erkundigungen über den Mord anzustellen, und berichtete dem Anwalt, was sie von Mary Pratt erfahren hatte.
„Die Frau hat sein Gesicht nicht gesehen“, erklärte Lindsey. „Es hat beinahe den Anschein, als habe die Polizei ihr eingeredet, dass Rudy der Mann gewesen sei, den sie in der Nähe des Tatorts sah.“
Jonas Marvin rückte seine verrutschte goldgerahmte Brille zurecht. „Wenn das stimmt,
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