Mein mutiges Herz
zweifellos seine Bedenken wegen des leidenschaftlichen Kusses, den sie im Garten des Earl of Kittridge getauscht hatten.
Sie musste bis Montag auf ein Wiedersehen mit ihm warten.
Während sie an ihrem Beitrag für die nächste Ausgabe des Magazins schrieb, konzentrierte Lindsey sich auf den Ball vom vergangenen Samstag. Ausführlich schilderte sie die üppigen Blumengebinde im festlich geschmückten Saal, die fabelhaften Darbietungen des Orchesters, fand lobende Worte für die glitzernde Eleganz der Gäste, erwähnte die Namen prominenter Aristokraten und einflussreicher Honoratioren und würzte ihre Kolumne mit etwas Gesellschaftsklatsch.
Lady Marston war guter Hoffnung – wieder einmal.
Die Duchess of Weyburn, die seit einiger Zeit kränkelte, befand sich auf dem Wege der Besserung.
Ein gewisser Lord F. schien den Zwist mit seiner Gemahlin beigelegt zu haben, die nun nicht mehr mit Scheidung drohte.
Lindsey lächelte bei dem letzten Satz. Fulcroft hatte sie geflissentlich während des ganzen Abends geschnitten, aber seine Gemahlin war ausgesprochen freundlich zu ihr, schien dankbar zu sein, dass die ständigen Seitensprünge ihres Gatten endlich ans Tageslicht gekommen und somit beendet waren. Lady Fulcroft liebte ihren treulosen Ehemann offenbar sehr und hätte es vorgezogen, sich von ihm zu trennen, statt ihn mit anderen Frauen zu teilen.
Lindsey fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn ihr zukünftiger Ehemann sie betrog. Da es sich dabei kaum um eine Liebesheirat handeln würde, wäre ihr seine Untreue vermutlich einerlei.
Lady Fulcroft war allerdings die Einzige, die liebenswürdig zu ihr gewesen war, was sie von den anderen Gästen nicht behaupten konnte. Überall wurde getuschelt, und man stellte wilde Spekulationen über Rudy an. War der Erbe des Renhurst-Vermögens und – Titels tatsächlich ein Mörder? Oder hatte man ihn zu Unrecht beschuldigt und ins Gefängnis gesteckt, wie seine Schwester und Tante zu glauben schienen?
Einige hatten Lindsey sogar offen darauf angesprochen und peinliche Fragen gestellt. Und Lindsey hatte Rudy jedes Mal tapfer verteidigt.
„Mein lieber Bruder ist völlig unschuldig“, hatte sie Mrs. Marchbanks versichert, einer berüchtigten Klatschbase der Londoner Gesellschaft. „Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, dass er im Gefängnis schmachten muss.“
„Wie erträgt Ihr Bruder die Gefängnisstrafe?“, hatte Lord Perry gefragt, ein alter Freund ihres Vaters.
„Er hält sich sehr tapfer, Mylord. Dabei ist er lediglich das Opfer einer Kette unglücklicher Missverständnisse, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass die leidige Angelegenheit sehr bald aus der Welt geschafft sein wird.“
Lord Perry nickte und wirkte eigentlich teilnahmsvoll. Dennoch war es ein höchst unangenehmer und anstrengender Abend, milde ausgedrückt.
Und dann ihre Begegnung mit Thor.
Bei dem Gedanken daran schoss Lindsey die Röte ins Gesicht. Was war nur an diesem Mann, das sie nicht mehr klar denken ließ? Sie war doch nicht so seicht und oberflächlich, dass ihr allein sein gutes Aussehen den Kopf völlig verdrehte.
Thor strahlte allerdings eine Wärme aus, eine Güte und Fürsorge, wie sie ihr noch bei keinem Mann begegnet war. Und sie war bereits zwei Mal in seinem Beisein in Tränen ausgebrochen. Lindsey gestattete sich niemals zu weinen, schon gar nicht vor Fremden.
Da ihre Eltern viele Monate des Jahres auf Reisen waren und sie den Großteil ihrer Schulzeit in Internaten verbracht hatte, war sie an Selbstständigkeit gewöhnt. Sie hatte gelernt, stark zu sein, sich um sich selbst und um ihren Bruder zu kümmern, und verlor nur höchst selten die Fassung.
Aber Thor strahlte etwas aus, das ihr das Gefühl gab, ihm vertrauen zu können, das in ihr den Wunsch weckte, sich an seine starke Schulter zu lehnen und sich von ihm in ihrer Not helfen zu lassen.
In gewisser Weise war das beängstigend.
Sie saß grübelnd an ihrem Schreibtisch, als Bessie Briggs eintrat.
„Das habe ich heute früh unter der Tür gefunden. Ihr Name steht auf dem Umschlag.“
„Danke, Bessie.“ Lindsey betrachtete sinnend die fremde Handschrift in blauer Tinte, dann brach sie das Siegel und begann zu lesen.
Wenn Sie Ihren Bruder retten wollen, suchen Sie den Mörder unter seinen Freunden.
Gütiger Himmel! Noch einmal las sie die Notiz, studierte den Umschlag, suchte nach einem Hinweis, wer der Verfasser dieser Zeilen sein könnte – vergeblich.
Suchen Sie den Mörder unter seinen
Weitere Kostenlose Bücher