Mein mutiges Herz
Hall. Stephen ist ein paar Jahre älter als Rudy, die beiden kennen sich von Kindesbeinen an. Sie besuchten das gleiche Internat und studierten gemeinsam ein paar Semester in Oxford.“
„Ich bin Lord Merrick einige Male begegnet; er machte eigentlich einen guten Eindruck auf mich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mann ein Mörder sein soll.“
„Ich auch nicht. Da wir Nachbarn sind, kennen wir einander ziemlich gut. Vater zog Stephen sogar einmal als möglichen Heiratskandidaten für mich in Erwägung.“ Sie nahm den Zettel wieder an sich, den Krista ihr hinhielt. „Wenn das tatsächlich ein Scherz sein soll, so finde ich ihn ausgesprochen geschmacklos.“
„Wer könnte so etwas wohl verschicken?“
„Wenn ich das nur wüsste.“
„Was willst du nun tun?“
„Nichts.“
„Haben Sie eine zweite Nachricht erhalten?“ Thors tiefe Stimme löste ein Prickeln in Lindsey aus. Er trat an den Schreibtisch, und ihr Herz machte einen kleinen Satz.
„Ja, stellen Sie sich vor. Sie ist ebenso albern wie die erste. Diesmal beschuldigt der Schreiber einen Freund der Familie, Stephen Camden, den Sohn des Marquess of Wexford. Der Mann ist ein Viscount, gütiger Himmel. Das ist doch völlig absurd.“
„Nun, Ihr Bruder wird eines Tages den Titel eines Barons führen, und dennoch steht er unter Verdacht. Sie sollten diese Nachricht dem Privatdetektiv Mansfield vorlegen, er soll sich damit befassen.“
„Ich denke nicht daran. Diese Nachricht zeige ich keinem Menschen. Rudy wäre außer sich vor Empörung. Eine derartig niederträchtige Anschuldigung zu erheben würde uns beide beschämen und in höchste Verlegenheit bringen.“
„Aber Sie bewahren den Zettel auf, falls eine dritte Nachricht eintrifft.“
„Ja, das tue ich. Und wenn ich herausfinde, welcher Witzbold sie geschickt hat, werde ich ihm gehörig meine Meinung sagen.“
Wortlos drehte Thor sich um und begab sich wieder an die Arbeit. Erst am späten Nachmittag verließ Lindsey mit ihm die Redaktion, um die zwei Frauen aufzusuchen, die sich mit Phoebe Carter eine Wohnung geteilt hatten. Während der Fahrt war Thor einsilbig. Gewiss hatte er sich vorgenommen, ihre innige Begegnung nicht zu erwähnen und ihre Beziehung wieder auf höfliche Distanz zu bringen.
Lindsey fühlte sich nervös und fahrig, als sie an dem Mietshaus in der Maiden Lane vorfuhren. Um diese späte Nachmittagsstunde müssten die Frauen schon auf sein, nachdem sie die ganze Nacht gearbeitet hatten.
Thor klopfte mehrmals, bis eine Rothaarige in einem schwarzen Seidennegligé die Tür öffnete.
„Wer macht denn hier solchen Lärm? Es ist noch zu früh für …“ Bei Thors Anblick formten ihre Lippen ein großes, staunendes O. Ihr Blick wanderte von seinen langen muskulösen Beinen nach oben über die schmalen Hüften, den breiten Brustkorb und hefteten sich auf seine markant geschnittenen Gesichtszüge.
Sein lockiges schwarzes Haar kringelte sich über dem Kragen, und seine strahlend blauen Augen nahmen die Frau und ihre Umgebung wachsam auf.
„Vielleicht habe ich den Mund zu voll genommen“, gurrte sie und trat beiseite, um ihn einzulassen. „Was kann die kleine Mandy für dich tun, schöner Mann?“
Zu Lindseys Verwunderung schenkte Thor der spärlich bekleideten Frau kaum Beachtung und schien ihre Einladung zu überhören. „Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen.“
„Wir würden gerne mit Ihnen über Ihre Mitbewohnerin Phoebe Carter sprechen.“ Lindsey war bemüht, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen, dass die Frau sie keines Blickes würdigte. Die Rothaarige hatte nur Augen für Thor.
„Sie sehen nicht aus, als kämen Sie von der Polizei.“
„Mein Bruder ist Rudolph Graham. Ich nehme an, Sie kennen ihn. Er wird beschuldigt, Phoebe getötet zu haben.“
„Ja, davon habe ich gehört. Ziemlich dreist von Ihnen, hier aufzutauchen.“
„Mein Bruder ist unschuldig“, fuhr Lindsey unbeirrt fort. „Wenn Sie ihn kennen, wissen Sie genau, dass er nie fähig wäre, eine Frau zu töten. Und das müssen wir beweisen.“
Mandy warf Thor noch einen koketten Blick zu. „Ich habe ihn ein paar Mal gesehen. Phoebe konnte ihn gut leiden. Er sah mir eigentlich nicht aus wie ein Mörder.“ Sie trat von der Tür zurück. „Kommen Sie herein.“ Über die Schulter rief sie nach hinten: „He, Annie, wir haben Besuch.“
Die recht saubere Wohnung war spärlich möbliert, mit einem abgewetzten rosafarbenen Samtsofa und einem passenden Sessel. Auf dem
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