Mein Name ist Afra (German Edition)
einen Durchschlupf gab, sie lockerte mit beiden Händen einen Pfahl an der Böschung neben dem Bach, der an dieser Stelle unter dem Zaun hindurch floß, schob ihn zur Seite und zwängte sich auf Knien durch die schmale Öffnung. Ihren Umhang und den weiten Rock hatte sie um sich gewickelt und mit den Zähnen festgehalten, da sie beide Hände zum Kriechen brauchte, und nachdem sie auf der anderen Seite angelangt war, schob sie den Zaunpfahl wieder in seine ursprüngliche Stellung zurück. Die scheckige Katze auf der Bank hatte das Geschehen aufmerksam verfolgt und sich aufgesetzt, als die Frau durch das Loch verschwunden war, aber als der hölzerne Zaun sich wieder schloß und alles ruhig blieb, drehte sich das Tier gemächlich auf die andere Seite ein und schlief weiter.
Vorsichtig und leise, die nackten Hände und Arme unter dem dicht gewebten, wollenen Umhang schützend geborgen, trat die Frau aus dem wirren Gebüsch und kratzigen Strauchwerk, das den Dorfzaun auf der Außenseite schier undurchdringlich wuchernd umgab und mit seinen Dornen und Stacheln zusätzlich vor Eindringlingen schützte, und als sie endlich frei dastand und ein paar sichere Schritte weg vom Zaun getan hatte, ließ sie die schmalen Schultern sinken und atmete erleichtert aus. Abgebrochene Zweige und stachelige Kletten hatten sich in Haar und Kleidung verfangen und wurden nun abgestreift und ausgeschüttelt, und dann nestelte die junge Frau einige Hornnadeln aus den damit aufgesteckten Haaren, löste ihre dichten Zöpfe und ließ das volle, leicht lockige Haar bis zu den Hüften offen herabfallen. Sie warf noch einen letzten Blick auf die Strohdächer der Siedlung und schlang entschlossen den Umhang über die Schulter, horchte kurz auf das laute und wütende Bellen eines Hundes im Dorf und eilte dann mit weit ausholenden Schritten zum Hügel im Osten des Bachtals.
Auf dem breiten Eggbichl lagen dicht aneinander gereiht die Gräber der Vorfahren, und obwohl von ihnen außer ein paar herumliegenden großen Steinen nichts mehr zu erkennen war, so wäre doch kein Bauer oder Knecht, geschweige denn eine der Frauen, alleine in der Nacht auf diesen heidnischen Hügel gestiegen, denn tiefe Ehrfurcht und große Angst vor den unchristlichen Ahnen und ihren grausamen Göttern hielten die Menschen noch immer in ihrem Bann. Die junge Frau aber achtete nicht der uralten Grabstätten, auf die sie ihre bloßen Füße setzte, sondern lief im weichen Licht des Vollmondes mit wehenden Haaren über den Hügel bis zum angrenzenden Wald, wo im Nachtschatten der Bäume ein bewaffneter Reiter auf sie wartete.
Das kleine und gedrungene Pferd mit der zottigen Mähne stand wie aus Stein gemeißelt, als die Frau darauf zueilte und die ausgestreckte Hand des Mannes auf seinem Rücken ergriff, und mit einem einzigen kräftigen Schwung zog der in den Steigbügeln stehende Reiter sie hinter sich auf den Sattel und trabte mit ihr ohne ein Wort durch den dichten Wald zur Ambraschlucht.
Der schmale Weg war ein nur leidlich ausgetretener Saumpfad voller Löcher und Wurzeln, und obwohl das stämmige Pferd seine kleinen, harten Hufe mit dem Eisenbeschlag geschickt und sicher auf den Waldboden setzte, geriet es doch hin und wieder ins Stolpern, und die Frau klammerte sich fest an den starken Rücken des Reiters und verschränkte ihre Hände vor seinem flachen Bauch. Durch ihre Kleider spürte sie jede Bewegung seines Körpers, fühlte das fast unmerkliche Spiel der harten Muskeln und Sehnen des Mannes, mit denen er das Pferd lenkte, und sie horchte auf den Schlag seines Herzens und atmete tief den Geruch nach Rauch und Leder ein, den sein langes Haar verströmte. Trotz der Gefahren durch wilde Tiere und heidnische Spukgestalten im nächtlichen Wald fühlte sich die junge Frau so sicher und geborgen wie noch nie in ihrem Leben, und es schreckte sie weder das Geheul eines Wolfsrudels in der Ferne noch der klagende Schrei eines Waldkauzes hoch über ihr in den Baumwipfeln.
Am Rande der tiefen Schlucht stiegen die Reiter ab, denn der Abstieg zur Ambra war zu steil und gefährlich auf dem Rücken eines Pferdes, und der Mann ging voraus und führte das Tier den Abhang hinunter, zwischen riesigen Felsbrocken und undurchdringlichem Strauchwerk bahnte er für sich und die Frau einen Weg. Uralte Bäume überzogen mit ihrem Wurzelwerk den steilen Hangboden und ließen Mensch und Tier stolpern, und gefiederte Farne und feingliedrige Schachtelhalme streiften unentwegt die nackten Füße der
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