Mein Name ist Afra (German Edition)
eure Leute in Sicherheit! Versteckt das Vieh und die Vorräte, denn die ungarischen Reiter sind hungrig auf ihrem Kriegszug, hungrig auf Nahrung und reiche Beute, hungrig nach Sklaven und Gold!“
Fassungslos hatten die Menschen dem jungen Mann zugehört, und niemand zweifelte jetzt noch an seinen eindringlichen Worten. Als er aufgehört hatte zu sprechen, herrschte für einen kurzen Moment eine lähmende Stille, bewegungslos standen alle da und versuchten, ihre Gedanken zu ordnen. Dann brach eine Unruhe und ein Durcheinander los, wie ich es noch nie erlebt hatte, und Richlint, Walburc, Liutbirc und ich drängten uns schutzsuchend aneinander, um uns in diesem Trubel nicht zu verlieren. Laut schreiend liefen die Menschen herum, um ihre Familien zusammenzubringen und die Klosterinsel verlassen zu können, verzweifelte Mütter fanden ihre kleinen Kinder nicht, und aufgebrachte Bauern herrschten ihre Knechte an, damit sie noch schneller die Boote zur Überfahrt bereit machten. Bänke und Tische lagen umgestürzt auf dem Boden, dazwischen im Dreck das gute Essen und Becher und Kannen, aus denen Wein und Bier floß und das Stroh auf der Erde tränkte. Hunde schnappten sich die heruntergefallenen Fleischstücke und jaulten laut auf, wenn die Menschen über sie stolperten und sie einen derben Fußtritt bekamen, und dazwischen eilten die Mönche mit wehenden, grauen Kutten in die Kirche, um ihre goldenen und silbernen Kelche und Kreuze in Sicherheit zu bringen. Wezilo befahl Rasso und Wiggo, auf uns Mädchen aufzupassen und uns auf keinen Fall allein zu lassen, während er die Knechte suchte, und als wir endlich alle beisammen standen, wir Leute aus Pitengouua, hatte sich der erste Sturm im Klosterhof schon gelegt, und die Menschen drängten mit brennenden Fackeln in der Hand auf dem schmalen Weg, der hinunter zum Meierhof und zum stockfinsteren Seeufer führte.
Wezilo war unser Vater und Meier, und fragend blickten wir alle zu ihm, damit er uns sagte, was zu tun sei und wohin wir gehen sollten. „Der Markt in Murnowe wird wohl nicht mehr stattfinden,“ sagte er nach kurzem Nachdenken, „und unser Platz ist in schlechten Zeiten zuhause, bei unseren Familien! Wir müssen sie warnen vor der Gefahr, damit alle die sichere Burg aufsuchen können, und in einem Kampf brauchen sie unsere Hilfe und Manneskraft, deshalb reiten wir auf kürzestem Weg zurück nach Pitengouua! Rasso und Wichard, ihr habt eure eigenen Pferde und kommt damit besser voran als wir mit den Ochsenkarren und den Mädchen, deshalb reitet ihr voraus und sorgt dafür, daß alle so schnell wie möglich auf die Burg kommen, auch das Vieh und die Schweineherde vom Doswald! Und seid vorsichtig auf eurem Weg, reitet abseits der Straßen und versteckt euch im dichten Wald, wenn ihr die Staubwolken von Reiterhorden seht!“
Wir waren die letzte Gruppe von Menschen, die die Klosterinsel verließ, und als wir hintereinander im Dunkel der Nacht über den schmalen Steg und die winzige Insel das feste Ufer erreicht hatten, blickte ich noch einmal zurück und sah im schwachen Licht der Fackeln die Mönche hastig die Holzplanken der Brücke herausreißen und den ganzen Steg zerstören, damit das Kloster nur noch mit Booten erreicht werden konnte und so sicher vor den ungarischen Reitern war.
Der Weg zurück nach Pitengouua kam mir viel länger vor als der Hinweg, obwohl wir keine Rast einlegten und sicherlich einige Stunden weniger unterwegs waren als am Tag davor, denn Angst und Sorgen trieben uns vorwärts. Tiefschwarze Nacht umhüllte uns ganz und gar, und nur das dünne, milchige Licht des zunehmenden Mondes, das gelegentlich hinter den Wolken aufschien, wies dem voran reitenden Meier den Weg. Die Stille ringsum uns war vollkommen und wurde nur manchmal vom Ruf eine Nachtkauzes oder dem fernen Heulen von Wölfen unterbrochen, und obwohl wir Kinder uns eigentlich vor der dunklen, geheimnisvollen Nacht mit ihren Geistern und Gnomen außerhalb der sicheren Hofumfriedung fürchteten, ritten wir ohne zu klagen tapfer mit und vertrauten der Erfahrung meines Vaters und dem Mut und der Kraft der jungen Knechte, die uns schon verteidigen würden. Kaum ein Wort wurde gesprochen auf diesem nächtlichem Heimweg, und es gab keine lustigen Scherze und bunte Erzählungen wie auf dem Herweg, denn ein jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach, und die tiefe Angst vor dem Ungarnsturm und die Ungewißheit, was uns wohl im Dorf erwartete, verschloß uns allen den Mund.
Richlint
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