Mein Name ist Toastbrot (German Edition)
heilt, steht das einfache Abwarten mit den Therapien in Konkurrenz. Auch wenn ich nicht weiß, ob die Therapie für meine Besserung verantwortlich war, erfüllt das Therapieren selbst eine ganz wesentliche Rolle. Als „Psycho“, litt ich vor allem unter meiner Hilflosigkeit den weiteren Verlauf meiner Erkrankung nicht beeinflussen zu können und verstärkte damit meine Symptome. Tabletten geben mir das Gefühl, aktiv etwas tun zu können. Mit anderen Worten: Ich nehme an, dass Placebos genauso erfolgreich gewesen wären.
Es war die Nacht nach dem Tag, an dem ich Herr Kaspar kennengelernt hatte. Irgendwann war ich eingeschlafen und tauchte in wilde Träume, die so uninteressant waren, dass ich sie vergessen habe. Neugierig schwang ich mich aus dem Bett, trank den Kaffee, den mir Andrea gebrüht hatte, und war auch schon auf dem Weg zur Schule. Mich trug ein Gefühl aus Leidenschaft und Neugier, dieses Gefühl sich einer Sache, auf die man sich freut, mit Haut und Haaren zu widmen.
Den meisten Menschen, die ich kenne, die eine ähnlich holprige Kindheit wie ich erlebt haben, bereitete die Schule erhebliche Schwierigkeiten. In diesem Punkt hatte ich Glück, sofern es so etwas wie Glück überhaupt gibt. Kaspers Unterricht konnte ich leicht folgen, was mir viel Zeit ließ, ihn zu studieren.
Dieses Menschenstudium ließ aber doch nicht die Früchte reifen, die ich zu ernten gedachte. Meine Mitschüler versuchten ununterbrochen, seine Aufmerksamkeit zu erheischen. Er versuchte diese gleichmäßig, ohne großen Erfolg zu verteilen. Seine Art hatte etwas Gleichgültiges gegenüber dem Geschehen in der Klasse, während man sich als Schüler sehr intensiv wahrgenommen fühlte. Wollte man das nicht, ließ er den Schüler in Ruhe, bis dieser selbst wieder ins Geschehen einstieg. Sein Ton war direkt und keineswegs frei von ironischem Witz. Interessanterweise schuf dies eine angenehme Atmosphäre der Vertrautheit ohne Angst, in der sich jeder der mochte einbringen konnte. Beeindruckend war seine breite Allgemeinbildung, die mich zugleich faszinierte und ärgerte. Seine Prinzipien vertrat er rigoros. Frauenfeindlichkeit, Diskriminierung der weniger Privilegierten und unannehmbare Vorurteile waren beispielsweise Tabu. Jene, die dachten siemüssten sich an Herr Kaspar reiben, wurden von ihm fein säuberlich argumentativ bis zur Lächerlichkeit zerlegt. Ein fantastisches Schauspiel, das mich lehrte, welche Kraft die Sprache in sich trägt und welchen Himmel man mit ihr aufzuspannen vermag. Ein Hoch auf Ludwig Wittgenstein, der sagte: „Die Sprache ist die Grenze meiner Welt.“
Oft endete sein Unterricht im Chaos, bis er mühevoll für Ruhe sorgte. Das ging ihm gehörig auf den Geist, und das spürte man in aller Klarheit. Das Erlangen seiner Aufmerksamkeit reizte mich zunehmend, doch war das alles andere als einfach, da er irgendwie mit jedem persönlich in Kontakt stand und doch mit keinem. Damals hatte ich noch keinen Zugang zum Web, um mit Hilfe von Cyber-Stalking mehr über ihn herauszufinden.
Er stellte überdurchschnittlich schwere Schulaufgaben und Kurzarbeiten, wo ich meine Chance zu erkennen glaubte, ihn zu beeindrucken. Gelungen ist mir das nicht, da er offenbar Noten gegenüber ein sehr geteiltes Verhältnis hatte. Noten waren nur Zahlen und sagten nichts über die Menschen, die sie erhielten aus. Erst vier Wochen später erfuhr ich, dass er an einem Nachmittag eine Sprechstunde für schwächere Schüler anbot, in denen er persönliche Hausaufgabenbetreuung leistete. Trotz meiner guten Noten entschloss ich mich, ihm einen Besuch abzustatten. Begründen wollte ich meinen Besuch damit, dass die Frage offen geblieben sei, weshalb ich mich mit Emil Sinclair identifizieren würde.
Aus heutiger Sicht klingt das natürlich übersteigert und lächerlich, denn ich hätte einfach hingehen können. Tatsächlich waren damals aber meine schulischen Leistungen etwas Heiliges, denn die waren bis dahin konstant gut gewesen. Diese Beständigkeit war unantastbar und es hätte mir kaum gefallen, wenn mich Mitschüler, oder Lehrer bei einer Nachhilfestunde gesehen hätten. Ganz abgesehen davon plagte mich gewaltige Angst vor dieser Situation. Der schmächtige David geht zum mächtigen Goliath und hat die Schleuder nicht dabei.
Als ich dann am Freitag Nachmittag aufgeregt vor der Tür des Sprechzimmers stand, kam alles ganz anders als geplant. Als ich meinen Kopf nach einem zaghaften Anklopfen durch die Tür steckte, saß Herr Kaspar
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