Mein Name war Judas
ansprach und auf die Familie zeigte, die sich unter die Zuhörer mischte. »Du kennst sie doch, Judas, kümmere du dich um sie!«
Maria begrüßte mich auf ihre konfuse Art. »Judas, mein Lieber, wie gut du aussiehst! Dieses Leben scheint dir zu bekommen. Bist du ein Beduine, oder hast du einen Sonnenbrand? Jedenfalls ist es die Hautfarbe eines Heiden. Meine Güte, wie dünn du bist! Das sehe ich ja jetzt erst. Bekommst du nicht genug zu essen? Es heißt, dass ihr Bettler seid, aber ich hoffe, das stimmt nicht. Doch nun sag mir, warum mein ungezogener Sohn dich daran hindert, deine Mutter zu besuchen!«
Ich zwang mich zu lächeln und sagte, es sei schön, sie zu sehen, sie und die anderen Familienmitglieder.
»Wir sind gekommen, um Jesus zu sehen«, sagte sie. »Würdest du ihm bitte Bescheid sagen?«
»Jetzt?«
»Ja, bitte, mein Lieber, wenn es dir nichts ausmacht.«
Ich sagte, dass er gerade mit der Predigt anfangen wolle.
»Für mich wird er wohl einen Moment Zeit haben, Judas. Schließlich bin ich seine Mutter.«
Ich sagte ihr, sie müsse wohl bis nach der Predigt warten, aber ich würde ihm Bescheid sagen.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge zu der Stelle am Ufer, wo Jesus gerade im Begriff war, ins Boot zu steigen. Es war nicht leicht, zu ihm vorzudringen. Die Leute drängelten und schubsten, um einen Platz ganz vorne zu ergattern, und wollten mich nicht durchlassen.
Irgendwie bekam ich Jesus am Arm zu fassen und sagte ihm, seine Familie sei da. »Deine Mutter will dich sprechen.«
Seine Miene verfinsterte sich. »Meine Familie?«
Er wandte sich von mir ab, aber ich hatte noch die Hand an seinem Arm. »Was soll ich ihr sagen?«
»Sag ihr, das hier ist meine Familie.« Er machte eine ausladende Bewegung über die Köpfe der Menge hinweg. »Sag ihr, sie soll weggehen.«
»Das kann ich nicht.«
Erbost sah er mich an. »Sag’s ihr!«
Ich wollte protestieren: Warum ausgerechnet ich? Aber er hatte mich bereits abgeschüttelt und watete zu dem Boot, das Jakobus für ihn festhielt.
Es ärgerte mich, zwischen die Fronten dieser seltsamen Frau und ihres geltungsbewussten Sohnes zu geraten. Doch was ging es mich an, wenn er ihre Gefühle verletzte? Ich bahnte mir einen Weg zurück. »Er will nicht mit dir sprechen«, sagte ich. »Er sagt, die Leute hier seien seine Familie.«
Marias Miene versteinerte, genau wie gerade eben die von Jesus. Josef sah aus, als würde er sich am liebsten in Luft auflösen. Die larmoyanten Schwestern begannen zu weinen. Die Brüder murmelten Dinge wie: »Siehst du? Das hab ich dir doch gleich gesagt.«
Marias Augen funkelten. »Er bricht mir noch das Herz. Natürlich ist mein Schmerz ihm egal, das war schon immer so. Mein Leid war ihm immer egal. Kommt!«, sagte sie zu den ihren. »Ich will nicht hören, was dieses undankbare Kind zu sagen hat.«
»Wenn wir schon mal hier sind …«, begann Josef.
»Kommt nicht infrage!«, unterbrach ihn Maria. »Diesen Triumph gönne ich ihm nicht.«
Jesus hatte seine Predigt begonnen, wie immer mit einem Gebet. Trotzdem bekam er offenbar mit, dass seine Mutter davonzog und dabei so viel Lärm und Unruhe stiftete wie irgend möglich. Man konnte es seiner Predigt anmerken. Zuerst schien er kein Thema zu haben, keine klare Richtung. Als Maria dann aber fort war und die Menge zur Ruhe kam, fand er den roten Faden. Was er dann sagte, war etwas völlig Neues, dergleichen hatte ich noch nie von ihm gehört. Er schäumte vor Wut. Er sei nicht auf der Welt, um den Menschen Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Er sei gekommen, um Bruder gegen Bruder aufzuhetzen, Kinder gegen ihre Eltern. Im Namen des Herrn wolle er Familien und Freunde entzweien. Den Willen des Herrn könne nur erfüllen, wer unbeugsam sei und den Irrgläubigen nicht weiche.
Es war eine starke Botschaft, kompromisslos und aufregend. Trotzdem war ich ebenso erstaunt wie beunruhigt. Wo war der Jesus geblieben, der sagte, der Friedfertige sei gesegnet und werde Gott schauen?
Als sich die Menge nach der Predigt zerstreut hatte, versammelten wir uns, wie fast jeden Abend, um ein Feuer am Ufer. Dieses Mal herrschte angespanntes Schweigen, bis Petrus sagte, es sei eine starke Predigt gewesen. Hier und da murmelte jemand »wunderbar« oder »bemerkenswert«. Es war die Sorte Zuspruch, die Jesus brauchte und erwartete. Mir war diese Unterwürfigkeit zuwider. Es konnte doch nicht wahr sein, dass die anderen das wirklich dachten!
Ich fragte: »Reicht es, wenn wir die Kraft
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