Mein Offizier und Gentleman
wissen. Anthony ist tatsächlich mein Sohn, aber ich war so schrecklich lange fort …“ Ein unterdrücktes Schluchzen schüttelte sie. Sie stellte das Kind zu Boden und sagte: „Geh zu Rosa, mein Schatz.“
Der Knabe sah zögerlich zu ihr auf, ehe er den Pfad entlanghüpfte, doch in diesem Moment trat Rosa aus der Tür und starrte die beiden Frauen mit großen Augen feindselig an, nahm jedoch wortlos das Kind bei der Hand und führte es ins Haus.
„Wenn Staunton erführe, dass ich hier war, würde er mir David fortnehmen.“ Amelias Stimme bebte. „Sie glauben nicht, wie grausam er sein kann, Lucy. Jack erzählte mir, dass es um Rosa ging, als Sie mit ihm stritten. Er bat mich, Ihnen alles erklären zu dürfen – wenigstens Ihnen – doch ich verbot es ihm, weil ich mich so sehr davor fürchtete, was Sie sagen oder denken würden.“
„Ich verurteile Sie nicht“, versicherte Lucy ihr eifrig. „Warum auch? Ich weiß doch nicht, was Ihnen widerfuhr, Amelia, und Sie müssen sich auch nicht verp fl ichtet fühlen, es mir zu erzählen. Ich kam wirklich rein zufällig hier vorbei. Wenn Jack mich im Dunkeln ließ, war es um Ihretwillen, und das kann ich ihm nicht einmal übel nehmen.“
„Ich werde … nein, ich muss Ihnen alles erzählen, Lucy, doch nicht hier und jetzt. Bitte fahren Sie weiter. Sehen Sie, ich muss nun von meinem Erstgeborenen Abschied nehmen, denn ich werde ihn wahrscheinlich viele Monate, vielleicht gar Jahre, nicht mehr sehen – wenn überhaupt je.“
„Es tut mir so leid; um nichts in der Welt wollte ich Ihnen Kummer bereiten.“
„Sie werden schweigen, Lucy? Versprechen Sie es?“
„Ja, ganz bestimmt“, versprach Lucy. „Wir werden später miteinander reden?“
„Wenn ich zurück bin.“
Lucy ging ein Stück den Weg entlang zu ihrem Wagen, kletterte auf den Sitz und ließ sich von dem braven Jeremiah die Zügel reichen. „Fahren wir …“, murmelte sie versonnen und lenkte das Gefährt schweigend, bis Sie das Herrenhaus erreicht hatten. Der Bursche sprang ab und hielt die Pferde, während sie ebenfalls hinabkletterte. Sie sah ihn fest an. „Jeremiah, du wirst über das, was du vorhin sahst oder hörtest, nicht sprechen.“
„Ich hab’ nix gehört und nix gesehen, Miss. Gab ja auch nix zu sehen, da war nur ’n Junge und ’n paar Hunde, Miss, oder?“
Damit sagte er sogar die Wahrheit, glaubte Lucy, denn da er bei dem Gespann geblieben war, hatte er kaum etwas hören können. Doch sie wusste, auch im anderen Falle würde er geschwiegen haben. „Danke“, sagte sie. „Ich habe kein Geld dabei, aber du hast ein Goldstück bei mir gut.“
Strahlend rief der Bursche: „Da wird meine Mutter froh sein! Miss, darf ich Sie jetzt immer begleiten? Is’ tausendmal besser als Ställe misten!“
Lachend ging Lucy ins Haus. Nun, da sie wusste, dass Jack sie nicht belogen, sondern nur einen Teil der Wahrheit verschwiegen hatte, war ein düsterer Schatten von ihr gewichen.
Lucy hatte eben ihr Fahrkleid gegen ein leichtes Musselingewand getauscht, als sie ihre zukünftige Schwägerin die Auffahrt entlangkommen sah. Rasch eilte sie ihr entgegen, und Amelia schritt ihr voraus in den Rosengarten zu einer abgeschiedenen Bank, auf der sie sich niederließen.
„Hier können wir ungestört reden“, sagte die junge Frau, melancholisch lächelnd. „Lucy, ich weiß, dass Sie … ach, bitte, lass uns du zueinander sagen. Du wirst bald zur Familie gehören, und ich denke, was du nun erfährst, bindet uns noch auf andere Art aneinander.“
„Gern“, entgegnete Lucy erfreut, „ich hegte von Anfang an schwesterliche Gefühle für dich.“
Amelia dankte ihr und fuhr dann fort: „Also, ich wollte sagen, ich wusste natürlich, dass du Anthony für Jacks Sohn hieltest.“ Sie hatte ihre Handschuhe ausgezogen und drehte und wand sie nervös zwischen ihren Fingern. „Mit seinem Schweigen wollte er mich schützen, denn damals, als ich das Kind bekam, schämte ich mich derart, dass ich es zuerst fortgeben wollte.“
„Aber Jack wollte das nicht?“ Lucy nickte verstehend.
„Ich war damals siebzehn. Weißt du, ich war ein sehr lebhaftes Mädchen. Unsere Mutter starb, als ich noch sehr klein war, und unser Vater heiratete bald schon wieder. Ich mochte meine Stiefmutter nicht, und sie … sie hasste mich. Nicht einmal meinen Anblick konnte sie ausstehen, deshalb musste ich stets hier auf dem Gut bleiben, während sie mit meinem Vater in London oder auf einem der anderen Güter weilte. Sie
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