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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Rücken zu. Nach ein paar
ziellosen Schritten blieb ich wie betäubt vor dem Flussufer stehen. Ich hörte
dem Rauschen des Wassers zu, während mir langsam dämmerte, dass meine Reise
hier zu Ende war. Ich hatte 5000 Kilometer zurückgelegt, um kurz vor dem Ziel
zu scheitern.
    Der Rest war eine Flucht. Stromabwärts sprach niemand ein Wort. Wir
erreichten Abasa kurz vor Einbruch der Dunkelheit, mit dem letzten Tropfen
Benzin. Ich nahm einen Bus nach Askis, dann einen Nachtzug nach Nowokusnezk und
von dort aus das erstbeste Flugzeug Richtung Westen. Erst als Sibirien unter
einer dichten Wolkendecke verschwand, atmete ich erleichtert auf.

GRAS
(Steppe)
    Die schwarze Erde unter den Hufen
    war besät mit Gebeinen und begossen mit
Blut.
    Was konnte da anderes wachsen
    als Leid für das russische Land!
    In Mitleid bog sich das Steppengras.
    (Igor-Lied, 12. Jahrhundert)
     
    Während Jegoruschka die schlafenden Gesichter
betrachtete, hörte er auf einmal leisen Gesang. Dieses stille, ruhige,
getragene, wehmütige Lied, einem Klagegesang ähnlich und kaum hörbar, ertönte
bald von rechts, bald von links, bald von oben, bald aus der Erde, als schwebe
ein unsichtbarer Geist singend über der Steppe. Jegoruschka schaute sich um und
konnte nicht begreifen, woher dieses seltsame Lied kam. Als er aber länger
horchte, schien es ihm plötzlich, als singe das Gras.
    (Anton Tschechow, 1888)
     
    »Du lügst, Brjochowitsch! Nicht umsonst
hieß dein Vater Lügenmaul! Unter den Heiligen gibt es keine Kosaken!«
    (Michail Scholochow, 1930)

Waldmenschen und Wiesenmenschen
    Das Stadtwappen der Industriemetropole Tscheljabinsk,
gelegen in den südlichen Ausläufern des Urals, zeigt ein Kamel. Niemand konnte
mir sagen, warum. Manche Menschen murmelten etwas von alten Handelsrouten, aber
sie klangen selbst nicht überzeugt. Die Seidenstraße war weit entfernt. Selbst
ihre nördlichsten Verästelungen hatten um den Ural einen weiten Bogen
geschlagen. Das Kamel von Tscheljabinsk ist ein historischer Geisterfahrer.
    Dass ich im Ural landete, war im Grunde ein Zufall. Wenn ich im
Nachhinein darüber nachdenke, habe ich das Gefühl, dass es die Steppe war, die
mich anzog. Die weite, baumlose Landschaft des russischen Südens war das
Gegengift, das ich nach dem Desaster in der Taiga brauchte.
    In einem billigen Hotelzimmer duschte ich mir die zerdrückten Mücken
vom Leib und schlief mich gründlich aus. Am nächsten Morgen sah ich auf die
Landkarte. Ich stellte fest, dass ich nicht weit von Arkaim entfernt war, der
legendären Steppenstadt, die ich bisher nur als Modell gesehen hatte, im
Heidendorf Popowka. Ich musste an die enttäuschten Blicke der Heidenpriester
denken, die nicht begriffen hatten, warum die Magie ihrer nachgebauten
Kultstätte nicht auf mich übergesprungen war. In der Hoffnung, dass es beim
Original vielleicht besser funktionieren würde, kaufte ich mir eine
Zugfahrkarte Richtung Süden.
    Während der Fahrt sah ich die Sonne in der Steppe versinken, ein
roter Korall in einem Meer aus Gras. Als sie wieder aufging, hielt der Zug in
einer verschlafenen Siedlung nahe der kasachischen Grenze. Mit einem Bus fuhr
ich weiter. Ich hatte nicht viel geschlafen, aber die Landschaft hielt mich
wach. Zwischen mir und dem Horizont lag nichts, absolut nichts, nur die
gähnende Leere der Steppe, überdacht von einem Himmel ohne Anfang und Ende. Die
tiefstehende Morgensonne schien durch die Heckscheibe, die Fahrt ging nun
Richtung Westen. Nach vorne warf der Bus einen Schatten, der bis an den
Horizont reichte. Ich sah zu, wie er kürzer und kürzer wurde, bis er mittags,
als der Bus in Arkaim hielt, vollständig unter der Karosserie verschwunden war.
    Gennadij Sdanowitsch hatte ein Drittel seines Lebens unter der
Steppensonne verbracht. Seine Haare waren weiß, seine Haut wie aus Bronze,
seine Augen verborgen hinter zusammengekniffenen Lidern. Arkaim hatte das
Gesicht des Archäologen verändert. Und sein Leben.
    Während er mich über das Gelände führte, erzählte mir Sdanowitsch
die Geschichte, die ihn seit nunmehr zwei Jahrzehnten beschäftigte. Als
Archäologe der Universität Tscheljabinsk hatte er 1987 den Auftrag erhalten,
ein Tal in der Uralsteppe zu begutachten. Es war eine Routineuntersuchung,
niemand rechnete mit nennenswerten Funden. Genauer gesagt waren Funde sogar
unerwünscht. Das Tal sollte geflutet werden, ein Stausee war geplant. Die
Archäologen begriffen, dass ihr Auftrag darin bestand, nichts zu finden.
    Sie versagten

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