Mein Sanfter Zwilling
war noch heil. Ich lief die Strandpromenade entlang.
Ich wusste, dass Alexej oft beim Stützpunkt war, in dem ehemaligen Theatergebäude, das nun als Verwaltungsgebäude benutzt wurde, Nana hatte es einmal erwähnt. So eilte ich da hin. Ich dachte, wenn Maja bei mir ist, kann es nicht gefährlich werden. Sie werden keine Gefahr wittern, sie werden nicht gewalttätig werden. Die Stadt schlief, es war solch ein friedlicher Morgen, und wären hier und da keine Kugellöcher in den Fassaden gewesen, hätte man denken können, es sei ein ganz gewöhnliches Morgengrauen.
Draußen stand ein junger Abchase Wache, ich sprach ihn auf Abchasisch an. Ich fragte nach Alexej. Er musterte mich misstrauisch, dann befahl er mir, am Eingang zu warten, und ging hinein. Ich wusste damals nicht, dass alle Stationierten in der Nacht zum Stützpunkt einberufen worden waren, weil man die Eskalation erwartete. Weil man wusste, was passieren würde. Dann kam er zurück und sagte, er sei nicht da. Er sei vor zwei Stunden mit dem Auto weggefahren, sagte der Soldat. Ich begann zu weinen.
Ich wollte wissen, ob er allein gewesen sei. Er hatte wohl Mitleid und ging erneut hinein, um sich zu erkundigen. Als er wiederkam, sagte er, nein, seine Frau wäre bei ihm gewesen. Seine Frau, sagte er. Welche Frau, wollte ich wissen. Nana, seine Frau, wiederholte er. Ich bettelte, er solle herausfinden, wohin sie gefahren seien. Er wisse nichts darüber, sagte er immer wieder und vertröstete mich darauf, dass Alexej morgens um neun hier zu sein habe. So könne ich doch um neun wieder kommen.
Um neun, da würden wir es niemals mehr aus der Stadt schaffen. Ich glaube, ich habe geschrien, und Maja, die bei meinem Anblick noch mehr aus der Fassung geriet, schluchzte mit mir. Ich konnte nicht glauben, dass sie mich, uns, ihre Kinder einfach versetzt hatte. Nach all dem, was sie gesagt hatte, über den Russen, über sich, konnte sie doch nicht einfach alles wieder vergessen haben. Irgendwas war passiert. Ich weiß es nicht, ich weiß es bis heute nicht. Wir liefen zurück, ich konnte die Stadt nicht ohne Nana verlassen. Ich musste die Großmutter mit den Kindern in den Wagen setzen und sie allein fahren lassen. Ich musste bleiben und Nana finden.
Als ich um die Ecke biegen wollte, kurz vor dem Haus, blieb Maja stehen und begann aus voller Kehle zu schreien, ich wollte wissen, was denn los sei, ich versuchte alles Mögliche, um auf sie einzureden, sie zu beruhigen, ich kannte sie so nicht. Und da sagte sie es mir, sie sagte, dass sie es Papa gesagt habe, dass sie Papa gesagt habe, dass Mama einen anderen Freund hätte, dass sie manchmal mit ihm unterwegs sei, dass er eine Uniform trage, aber eine andere als Papa selbst, dass er Mama manchmal Geschenke mache und dass Mama ihn immer verberge und nie nach Hause bringen würde, dass sie aber immer wach bliebe und beobachten würde, wenn er Mama mit seinem Auto nach Hause bringe, dass …
Ich sah sie voller Entsetzen an, und bevor ich sie trösten konnte, löste sie sich von meiner Hand und rannte so schnell sie konnte die Straße runter. Genau in dem Moment bog ein großes Militärauto um die Ecke, mit russischem Kennzeichen. Es sah aus wie das Auto, mit dem Alexej Nana manchmal heimfuhr. Maja rannte dem Wagen hinterher. Sie rief nach ihrer Mutter und rannte und rannte. Bevor ich mich umdrehen und ihr hinterherrennen konnte, hatte sie eine Abkürzung genommen, hüpfte über einen Gartenzaun und sprang vor den Wagen. Sie konnten nicht rechtzeitig bremsen. Ich hörte das Quietschen der Reifen auf dem Asphalt. Und ich sah Maja nicht mehr. Irgendjemand schrie, und ich fiel hin. Es waren die Jungs, die sich die Friedenstruppe nannten. Bevor ich ankam, wusste ich, dass sie nicht mehr lebte. Sie war mit der Schläfe aufgeprallt. Ich hatte keine Ahnung, dass sie alles gewusst hatte …
Das Meer war endlos, und am Himmel begann es schon zu dämmern, ein blauer Strahl drang durch die Wolken und begann den Horizont rosa zu färben. Ich hielt einen kleinen grünlichen Stein umklammert und presste ihn in meiner Faust. Die Zigaretten waren aufgebraucht. Ich sah sie an. Sie weinte nicht. Sie starrte zum Horizont hin, wie ich.
– Ich habe Nanas Mutter mit dem schlafenden Buba in Lados Wagen geschoben und bin zurückgeblieben. Ich war dabei, als sie Maja ins Krankenhaus brachten, es war fast leer. Man nahm sie nur an, weil sie tot war. Ich wusste nicht, wo Lado war, ich wusste nicht, wo Nana war. Ich wusste nicht, wo ich war,
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