Mein Sanfter Zwilling
dicht bewaldete Berge. Der Strand war leer, da die Saison noch nicht eröffnet war, aber das Meer war warm und lockend.
Ivo und ich bekamen ein gemeinsames Zimmer mit Blick auf die Berge, Buba durfte sich seins aussuchen. Im Garten gab es zwei Katzen, die wir füttern sollten, und Buba übernahm mit unermesslichem Stolz die Rolle des Tierpflegers.
Und dann rannten wir alle zusammen zum Strand runter. Mit Ivo zu schwimmen war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen überhaupt gewesen, ich hatte fast schon vergessen, welch kindlichen Eifer ich dabei an den Tag legen konnte. Wir zogen uns schnell aus und hüpften alle ins klare Wasser.
– Na, Stella, wollen wir die alten Tage wieder aufleben lassen?, fragte Ivo und stieß mich mit dem Ellenbogen an. Meine Wut über ihn war noch nicht verflogen, und sie spornte mich an.
Lado und Buba wollten eine Mannschaft bilden, und Ivo und ich sollten die Konkurrenz sein, aber ich wollte Ivo besiegen, und deswegen tat ich nur so, als sei ich einverstanden, insgeheim hoffte ich, ihn hinter mir zu lassen. Wir zählten bis drei und schwammen los. Salome, die am Strand geblieben war, schrie irgendwas auf Georgisch hinter uns her, aber keiner achtete darauf, und Buba brüllte vor Freude, und ich tauchte unter. Ich spürte Ivos schnelle, zackige Armbewegungen neben mir, und die Wärme des salzigen Wassers, die uns in Niendorf gefehlt hatte, machte mich flinker. Das Wasser heilte alles, wischte alles weg, machte alles wett. Ich ließ mich reinwaschen, und wie jedes Mal im Wasser verstand ich den Zweck der Taufe. Es taufte mich immer wieder, es machte mich jedes Mal rein, neu. Es vergab mir. Jedes Mal.
Irgendwann machte uns Lado ein Zeichen, dass es zu viel wurde für Buba, und sie schwammen zurück. Ivo und ich machten nicht kehrt. Wir schwammen immer weiter. Weiter. Wir lösten uns auf, wir vergaßen uns, und wir schwammen davon, als läge da vorn die Antwort aller Antworten. Ich fühlte die Freiheit in meinem Körper, in meinen Schläfen, mein Gefängnis war weg, entzweigebrochen.
Ich tauchte ab und tauchte auf, und die Sonne blendete meine salzverklebten Augen, und ich wusste, ich hatte Ivo hinter mir gelassen. Ich war früher immer schwächer gewesen, war hinter Ivo zurückgeblieben, und nun hatte ich ihn überholt. Ich hörte ihn keuchen und strampeln, aber ich wusste, ich war weiter, ich war vor ihm. Ich hatte es geschafft. Zum ersten Mal im Leben hatte ich ihn überholt. Später, als wir am Strand lagen, fühlte ich mich wie fünfzehn. Ich fühlte mich gut.
Als es dunkel wurde, ging ich in den Garten hinaus, um den Meeresduft einzuatmen, und entdeckte am Zaun Salome, deren Zigarette glühte. Ich stellte mich wortlos zu ihr. Sie sagte nichts und schaute in die Ferne.
– Wollen wir einen Spaziergang machen?, schlug ich vor. Ich merkte, dass sie etwas beschäftigte. Sie nickte und machte einen Schritt vorwärts, und wir steuerten wie automatisch auf den Strand zu. Wir setzten uns auf die kühlen Steine und sahen auf das dunkle, stumme Meer. Sie begann kleine Steinchen ins Wasser zu werfen. Ich tat es ihr gleich, darauf lachten wir beide laut.
– Du magst mich nicht, oder?, fragte sie plötzlich, ohne mich anzusehen.
– Wie kommst du darauf? Das stimmt nicht.
– Dann ist es gut. Ich habe mich schon gefragt, was du hast.
Eine Weile schwiegen wir, beide etwas überfordert, und dann wandte sie sich wieder an mich:
– Ich habe auch ein Kind, sagte sie und starrte auf den Boden. Einen Sohn. Er ist fünfzehn. Wohnt bei seinem Vater in Deutschland. Sein Vater ist Informatiker. Ich war lange mit ihm verheiratet, aber ich habe immer Lado … Aber er hat Nana geheiratet, meine beste Freundin. Wir waren Nachbarn, wir sind zusammen groß geworden, Lado und ich. Ich war fünfzehn, als er mich das erste Mal geküsst hat. Auf der Straße, auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier, und … Ich habe gedacht, dass er mich lieben wird. Aber Nana war anders, sie war Schauspielschülerin und kam aus einer der besten Familien. Sie hatte alles. Lado wollte sie. Ich wusste es, bevor er es mir sagte. Sie hätte jeden haben können, aber bei ihm sagt sie Ja. Manchmal ist das Leben absurd, nicht?
Sie sprach eher mit sich selbst als mit mir.
– Sie hat ihn nicht einmal richtig gekannt. Sie hatte gerade ihr Studium angefangen und war das gefeierte Talent. Sie hatte alles. Was sollte ich machen? Ich meine, er war doch mein Freund. Ich war immer für ihn da gewesen, ich wusste alles über ihn, und
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