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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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doch ich wusste, ich musste sie suchen. Ich habe sie nicht gefunden. An diesem Morgen begann der Angriff auf das Regierungsgebäude. »Der Sturm« nannte man es später. Lado hatte es nicht mehr in die Stadt geschafft, weil fast alle seine Jungs auf dem Weg ihr Leben lassen mussten, und das rettete wiederum seins. Wäre er nach Suchumi gekommen, hätte er nicht überlebt, das ist sicher.
    In der darauf folgenden Nacht nahm mich ein Mann mit, ein Russe, dessen Wagen ich einfach so auf der Straße angehalten hatte. Er sagte, er fahre nach Gali. Ich solle einsteigen. Wir haben kein Wort miteinander gewechselt während der Fahrt. Ich weiß nicht, wie er aussah. In Gali brachte er mich zu einem der letzten georgischen Stützpunkte und setzte mich dort ab. Ich habe weder danke noch auf Wiedersehen gesagt. Er fuhr weiter. Drei Tage später setzte man mich in einen Lastwagen voller Flüchtlinge. Ich sagte kein Wort. Man nahm mich einfach mit. Einfach so, ohne zu fragen.
    Ich habe Lado all die Jahre nicht erzählt, was ich erfahren hatte. All die Jahre haben wir geschwiegen. Irgendwann landete er in Amerika, ich in Deutschland. Eine Weile versuchte ich, mich von ihm fernzuhalten. Ich gab ihm keine Telefonnummer, keine Adresse. Ich versuchte, mein Leben zu leben, aber was ist schon mein Leben, jenseits von ihm? Ich meine nicht die Liebe, ich meine nicht das, was wir früher einmal waren, sondern diese Tage und diese Nächte … die letzten Nächte, die ich an der Seite seiner Frau und seiner Tochter war, die kann ich ihm nicht wegnehmen. Verstehst du mich?
    Ich legte meine Hand auf ihre und presste die Lippen zusammen.
    – Ich bin diese letzte Erinnerung, die er noch hat. Irgendwann kam auch er nach Berlin. Ich habe ihn gesehen, und ich wusste, dass ich ihn nicht mehr verlassen konnte. Er war so kaputt, so traurig, ich kochte für ihn, ich wusch seine Wäsche, ich streichelte seinen Kopf, wenn er sich mal wieder halb bewusstlos getrunken hatte. Ich gab ihm Geld. Ich versuchte, ihn zu lieben wie damals, aber ich konnte es nicht mehr. Ich sah in seinen Augen, dass er nur noch die letzten Monate seiner angebeteten Frau in mir sah, und ich wurde krank davon. So krank, dass ich meine Familie, meinen Sohn verließ und mit ihm hierher zurückkam. Hierher. Und dann, eines Tages, habe ich es nicht mehr ausgehalten, die Tote zu sein, die, die kein Recht mehr auf das Leben hat, und habe ihm von Alexej erzählt. Ich habe ihm erzählt, was er schon längst wusste.
    – Lass uns ins Wasser gehen.
    – Was?
    – Ja, lass uns ins Wasser gehen.
    – Es ist kalt.
    – Nein, ist es nicht. Komm, zieh dich aus.
    Ich stand auf und begann mich auszuziehen. Bis ich nackt stehen blieb, wartend, sie stumm anflehend, mit mir schwimmen zu gehen. Sie sah mich an, sie sah mir zu, eine Weile irritiert, verunsichert, dann sprang sie auf und begann sich zu entkleiden. Sie hatte einen starken Körper, einen Körper, der alles ausgehalten hatte, ohne zugrunde zu gehen.
    – Du bist eine, die schwimmen kann. Gut schwimmen, auch gegen den Strom, sagte Salome, als hätte sie meine Gedanken gelesen, und rannte ins Wasser. Ich folgte ihr. Das Wasser hatte die Wärme des vergangenen Tages gespeichert, war noch nicht erkaltet von der Kühle des kommenden Morgens. Das Wasser nahm uns auf und duldete uns. Das Wasser war sanftmütig und barmherzig, es hatte uns vergeben, lange bevor wir bereit waren, uns selbst zu vergeben.

21.
    Wir aßen Fisch und tranken Weißwein, wir spielten Volleyball am Strand, der meist leer blieb, abgesehen von ein paar Rucksacktouristen oder einheimischen Kindern. Ivo blieb distanziert, als hätte dieser Nachmittag am Meer irgendetwas zwischen uns verrückt, verschoben. Ich fragte ihn nicht danach. Ich brauchte meine Zeit, um all die Geschichten in meinem Kopf zu ordnen, ich blieb allein. Genoss das Alleinsein. Ich las Bücher und Artikel, die mir Ivo lieh, über die jüngste Geschichte des Landes, doch suchte ich in ihr immer Lado, immer seine tote, blasse, Shakespeare liebende, ätherische Frau und ihre schöne Tochter, die herbe Salome, deren Namen ich mir jedes Mal auf der Zunge zergehen ließ wie eine cremige Eiskugel. Ich suchte Buba und Theo in ihr. Ich suchte Ivo, mich, meinen Mann, Salomes Mann, ihren Sohn. Und es war, als würden sich hinter jeder Figur noch unzählige andere verbergen, wie jene chinesische Totenarmee, kerzengerade in Reih und Glied.
    Nachts, wenn Buba schlief, saßen wir draußen, rauchend, trinkend oder an einem

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