Mein Sanfter Zwilling
gemacht.
Ich schlief ein und träumte von einem Baby, von Bubas Haaren, von Frank, der mir einen Apfel in unserem Garten pflückte, von Marks Händen, die meine Füße wärmten. Von Ivos Fingerkuppen, die zu Krokodilen wurden, und von einer Frau, die allein am Meer stehend Gedichte rezitierte, während der Wind ihre Haare durcheinanderwirbelte, gekleidet in ein Brautkleid mit einem Schleier, der vom Meereswasser nass und grau war. Die wässrige Augen hatte und unheimlich blass war, so dass man die Adern auf ihrer Stirn sah. Die immer wieder, wie bei einem Gebet, irgendwelche Zeilen aufsagte in einer Sprache, die ich nicht verstand. Um deren Knöchel sich Algen wickelten. Die auf jemanden zu warten schien, die verzweifelt war. Ich träumte, wie sie langsam, Schritt für Schritt, immer noch ihre Zeilen aufsagend, mit nach vorn gerichtetem Blick ins Meer ging. Und ich sah, wie sie nach und nach vom Wasser verschluckt wurde, bis nur noch ihr Schleier auf der Wasseroberfläche schwebte. Und als sie gänzlich verschwunden war, sah ich ein kleines Mädchen mit übernatürlich großen Augen aus dem Wasser auftauchen und »Mama, Mama« rufen.
– Ist alles gut. Komm, beruhige dich, du hast nur geträumt, sagte Ivo und legte mir seine feuchte Hand auf die Stirn. Du hast ja regelrecht gestöhnt! Und schweißnass bist du auch. Komm, lass uns was kochen. Ich hab einen Mordshunger.
Nach sieben Tagen in der trockenen Endjunihitze fuhren wir wieder zurück nach Tiflis. Manchmal noch sah ich die Bilder einer zerbombten Welt vor mir. Gerade wenn mich die Hitze zu überwältigen drohte, vergewisserte ich mich, dass meine Welt eine Welt voller Zweifel, jedoch ohne Bomben war.
Ich fuhr mit Buba zum Friedhof über der Stadt und spazierte mit ihm durch die schmalen Gassen der Altstadt. Ich schrieb Mark Mails und fragte ihn nach Theo. Er antwortete in zwei, drei kargen Sätzen. Immer nur das Nötigste. Ab und zu durfte ich ihn abends sprechen, obwohl Mark meist irgendwelche Ausreden erfand, warum Theo nicht ans Telefon kommen konnte.
Ivo verschwand jeden Morgen, er arbeite mit Lado im Studio am Interview und an den Aufnahmen, entschuldigte er sich. Ich fragte nicht nach, nicht danach, warum er mich einmal so sehr hier gebraucht hatte. Im Gegenteil, das Alleinsein in dieser Stadt empfand ich als Geschenk.
Ich las und ich lag in der rostigen Badewanne, ich lernte die Straßen mit ihren Bettlern, ich lernte ihre streunenden Katzen und Hunde kennen. Abends aß ich meist bei Kanchelis. Salome und ich sprachen kein einziges Mal mehr über die Nacht am Strand. Als gäbe es nach jener Nacht am Strand nichts mehr zu sagen, da nichts mehr an diese Geschichte heranreichte, als habe sie genug für uns beide gesprochen. Ich stellte keine Fragen mehr, nicht wohin meine Reise führen und wann sie enden würde, ich fragte es mich nicht mehr. Nur wenn ich mich spätabends auf die Veranda setzte, um auf Ivo zu warten, der noch irgendwo herumirrte, immer darauf achtend, seine Spuren hinter sich zu verwischen, verfiel ich in eine tiefe Melancholie, weil die Angst tief im Inneren sich nicht gänzlich verdrängen ließ und die Sehnsucht nach meinem Sohn nicht aufhören wollte. Das waren die Momente, in denen ich auch daran dachte, dass Lado mit Ivo im Juli nach Suchumi reisen würde.
Heute, zurückblickend auf diese stillen Tage, stelle ich mir noch immer die Frage, warum ich damals das Naheliegendste nicht erkannt habe.
An einem sehr heißen Mittwoch rief mich Salome an und bat mich, ins Marriot zu kommen. In der Bar gab es eine Klimaanlage, im Hintergrund spielte leise ein Klavier. Es gab Latte macchiato und Wiener Schnitzel. Amerikaner, Holländer, Franzosen und auch ein paar Deutsche saßen entweder über ihre Laptops gebeugt oder lasen die Financial Times . Es war ein Ort, der, herausgeschnitten aus dem Leben der Stadt, an alle anderen Orte der Welt erinnern sollte. Salome saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem dunklen Rock und einem blauen Satin-Oberteil am Tisch und nippte an einem Ananassaft. Sie hatte ein wenig Lippenstift aufgetragen, ihre Augen schimmerten dunkel in der Mittagssonne. Sie kam von der Arbeit, urteilte ich nach ihrem Erscheinungsbild. Ihr dichtes Haar fiel gerade um ihren Kopf und erinnerte mich an eine Filmschauspielerin aus der Stummfilmzeit. Sie nahm mich in die Arme und ließ zwei Sektgläser bringen.
– Was feiern wir denn?, fragte ich überrascht.
– Uns, antwortete sie knapp und zündete sich eine Pall Mall
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