Mein Sanfter Zwilling
gerötet, die Mundwinkel nach unten gezogen. Ich richtete mich auf und strich meine Haare aus dem Gesicht.
– Ich muss jetzt los.
– Vergiss es!
Er starrte mich durchdringend an, und da, genau in diesem Moment, beschloss ich aufzugeben. Hätte ich noch zwei, drei Sekunden länger durchgehalten, wäre es vielleicht nicht passiert, aber zwischen ihm und mir war es immer eine Sache von Sekunden, von kurzen Augenblicken, die jeder für sich alles hätte ändern können, durchlässig und fragil, wie wir wurden, wenn wir zusammen waren.
Ich öffnete meinen Mantel, hängte ihn behutsam über den Stuhl, ich knöpfte meine Jeans auf, schnürte meine Stiefel auf, ich legte den schwarzen Pullover sorgfältig über den Mantel, hakte meinen BH auf und zog den Slip herunter. Nackt blieb ich vor ihm stehen.
Dann legte ich mich aufs Bett und streckte die linke Hand nach ihm aus. Er stand lange bewegungslos da, kam, während er sich entkleidete, langsam auf mich zu und legte sich zu mir.
Die Nähe glich einem dünnen Faden, und wir waren zwei Seiltänzer darauf.
Ich wand mich, dehnte mich, drehte mich, als würde ich in ein kleines Schlupfloch verschwinden wollen, in ein Schlupfloch, fern dem Rest der Welt.
Und meine Abdrücke auf ihm suchend, fand ich mich überall: in dem kleinen Fleck unter der Brustwarze, neben dem Kratzer am Bauchnabel, an seiner kleinen Narbe am Kinn.
Ivo und ich freundeten uns schnell an. An den langen Liebesnachmittagen unserer Eltern fanden wir zueinander. Dadurch, dass wir ein Geheimnis gemeinsam hüten mussten, entstand schnell eine sehr starke Bindung. Denn wir beide wussten um die Gefahr, wir beide sahen sie unentwegt im Haus auf uns lauern und beschlossen in unserer kindlichen Einfalt, die Erwachsenen davor zu bewahren, sie diese Gefahr – so gut es ging – nicht spüren zu lassen.
Ivo war scheu und eigenwillig, ich stur und fordernd. Wir nahmen uns hin. In unserer kleinen, abgeschotteten Welt nahe beim Wasser bauten wir eine eigene kleine Insel, ein Schlaraffenland, bestehend aus den Abdrücken der Erwachsenen, unseren kleinen Fußspuren im Sand und den fernen Geräuschen aus dem Hafen.
Es gab keine Schule, keine anderen Menschen, keine Freunde, keine Erinnerungen, wenn wir auf unsere Insel gingen.
Je mehr sich mein Vater und seine Mutter von der Außenwelt abschotteten, desto stärker verteidigten wir sie, uns, das Geheimnis.
Zu Hause stritten sich Vater und Mutter, Leni wurde unleidlich, bekam dauernd irgendwelche Kinderkrankheiten. Was ich aus dieser Zeit nicht vergessen kann, ist Lenis endloses Heulen. Wenn sie nachts aufschreckte und nach Mutter schrie, wie Leni dann auch noch anfing, Vater zu rufen, obwohl sie ihm gegenüber immer aufsässiger wurde und ihn tagsüber kaum mehr in ihrer Nähe haben wollte. Ich denke, Mutter wusste ziemlich genau, was passierte, ich denke, sie wollte das Schlimmste verhindern und spielte vor uns die Ahnungslose.
Wenn ich heute zurückblicke, muss ich annehmen, dass Mutter schon längst über Vaters und Emmas Verhältnis Bescheid wusste; ich weiß bis heute nicht, warum sie so lange die Ahnungslose spielte. Ich kann nur annehmen, dass sie Angst hatte, dass sie selbst nicht genau wusste, was sie noch für ihren Ehemann empfand. Vielleicht glaubte sie noch an die Rettung ihrer Ehe, daran, dass es doch möglich war, dass eine Arzttochter einen gescheiterten Revoluzzer liebte, vielleicht. Und da man den Grund des Auseinanderfallens nicht benannte, stritt man sich wegen Kleinigkeiten.
Sie machte ihm Vorwürfe wegen seines ungezügelten Lebensstils, wegen seiner Gleichgültigkeit allen Haushaltsdingen gegenüber, wegen seines Alkoholkonsums, wegen des ungemähten Rasens, des unreparierten Rads, der dreckigen Schuhsohlen. Und, und, und …
Manchmal frage ich mich, wie es mir als sechs-, siebenjährigem Kind gelingen konnte, unser Geheimnis über ein Jahr zu bewahren, so lange zu schweigen, und noch mehr wundert es mich heute, wie wenig Sorgen sich Vater machte: um mich, um das, was er mir mit diesem Schwur abverlangte.
Aber im Laufe der Monate, in denen meine Familie sich Stück für Stück immer mehr von mir entfernte, ich in der Schule immer schlechtere Leistungen brachte, mich mit meiner Schwester nicht mehr verstand, meiner Mutter nicht aufrecht in die Augen blicken konnte, fand ich den festesten Bezugspunkt meines Lebens: Ivo.
Im Spätherbst kam Ivos Vater, der als Manager für einen Elektrokonzern in Bern arbeitete, für eine Woche nach Hamburg.
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