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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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Diese Woche blieben Vater und ich daheim; da wurde im Nachhol-Schnellprogramm plötzlich penibelst auf meine Hausaufgaben geachtet und auf die Regelmäßigkeit meiner Mahlzeiten. Seine Schuldgefühle gewannen an Raum, je länger ihm Emma fehlte.
    Währenddessen begann Mutter, sich in ihrer Mutterrolle angegriffen zu fühlen, und zeigte an manchen Tagen sogar eine Art offenen Missmut, sobald ich etwas Gutes über Papa sagte.
    Ich denke, hätte sie diesen Arzttochter-Komplex nicht gehabt, hätte sie die Scheidung viel eher eingereicht. Aber sie mühte sich ab, es allen recht zu machen, und verlor zusehends die Kontrolle über sich, ihr Leben, ihren Mann und ihre Töchter.
    Ich möchte manchmal Gesi sehr gern anrufen und ihr sagen, dass ich ihr längst verziehen habe, wenn ich überhaupt etwas zu verzeihen hätte. Ich denke, ihr Leben besteht bis heute größtenteils aus Vorwürfen gegen sich selbst. Ich würde ihr gern sagen, dass ich sie verstehe, nach all dem, was war, was sie über sich hat ergehen lassen müssen; dass ich es durchaus verstehe, dass sie damals geflüchtet ist wie ein angefahrenes Reh, das in den Wald flüchtet, Blutspuren hinterlassend. Sie hat es geschafft, sie hat durchgehalten.
    Jahrelang gab es nur Vorwürfe gegen sie, jahrelang hat Leni ihr den Spiegel ihrer Fehler vorgehalten, und ich habe geschwiegen …
    Wenn ich von heute aus zurückblicke, tut sie mir leid, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, ihr das eines Tages sagen zu können, ihr ein wenig Frieden zu verschaffen. Heute weiß ich, dass, egal wie sehr man auch versucht, eine gute Mutter zu sein, es nie reichen wird, dass es nie reichen wird, all die Lücken zu füllen, die das Leben mit sich bringt, dass man es nie schaffen wird, das eigene Kind vor dem Leben zu schützen. Ich möchte ihr gern sagen, dass ich Bescheid weiß, begriffen habe, dass ich all ihre ehrliche Trauer in der Entscheidung wiedererkenne, in einem neuen Land mit einem neuen Mann neu anzufangen und auf weitere Kinder zu verzichten.
    – Wie spät ist es?
    Ich setzte mich abrupt auf und sah zu Ivo, der angezogen und frisch rasiert am Schreibtisch saß und mich lächelnd ansah.
    – Halb vier. Du hast geschlafen.
    – Scheiße. Scheiße! Ich muss Theo vom Fußball abholen.
    – Willst du einen Kaffee?
    – Ich muss los, bist du eigentlich taub?
    Ich sprang gereizt auf, war überfordert und benötigte das Doppelte an Zeit, um meinen Körper in meine Kleider zu kriegen.
    – Du brauchst dir jetzt nicht die Hölle heißzumachen, nur weil du mit mir geschlafen hast.
    – Lass den Blödsinn! Deine Ratschläge kann ich jetzt am wenigsten gebrauchen.
    – Ich werde dir die Zeit lassen, die du brauchst. Ich weiß jetzt, dass es nicht weg ist. Und das bedeutet mir viel. Das ist immerhin ein Anfang.
    – Das ist das Ende, Ivo, das ist das Ende. Das absolute Ende.
    – Hast du ihn nie betrogen?
    – Das geht dich nichts an. Wo sind meine Schuhe, verdammt? Ich komm schon wieder zu spät!
    Ivo bückte sich und holte meine Schuhe unter dem Bett hervor, dann kniete er sich vor mir nieder und zog sie mir an. Ich starrte auf seine Haare, unfähig, irgendetwas zu tun oder zu sagen.
    Er sah mich an, seine Hand umklammerte meinen Knöchel, dann wanderte sie die Wade hoch, die Innenseite meines Schenkels und verharrte zwischen meinen Beinen. Und schon wieder fühlte ich, wie mir eiskalt wurde, wie dieses Zucken durch meinen Leib ging, dass ich dafür meinen Sohn im Regen auf dem Fußballplatz stehen lassen und hier bleiben würde. Ich wäre dazu fähig, und ich hasste mich dafür. Dieser Hass war es, der mich seine Hand ergreifen und ihn wegstoßen ließ.
    – Du bist ein Schwein, weißt du? Ein egoistisches Schwein.
    – Ich brauche dich, rief er mir hinterher, als ich die Tür aufriss und Richtung Fahrstuhl stürmte.

7.
    Ich saß bei Tulja auf der Terrasse und sah dem stürmischen Frühjahrswind zu, wie er Staub und Sandkörner hoch in die Luft wirbelte. Ich wusste, dass der Wind sich legen würde, dass sein Abflauen die Bootssaison eröffnen und Tuljas Laune erheblich bessern würde, ich wusste, dass danach mit den Wolken ruhige Tage an den Strand geweht werden würden. Hier in der verschlafenen Gegend von Niendorf hatte ich den zweiten Abschnitt meiner Kindheit verbracht, der nichts, absolut nichts mit dem ersten zu tun zu haben schien.
    Tulja kam mit Kaffee und Kuchen und tätschelte mein Knie, während sie sich auf der Schaukel neben mir niederließ und sich eine ihrer

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