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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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selbstgedrehten Zigaretten anzündete.
    – Ich mache mir Sorgen um dich, sagte sie und begann zu rauchen.
    Sie hatte etwas fast Unwirkliches an sich, ihr Gesicht, ihre Aufmachung schienen nicht von dieser Welt zu sein, vor allem passten sie nicht in das kleine norddeutsche Küstendorf; vielleicht wäre Tulja an einem anderen Ort ganz gewöhnlich erschienen, bei einem Nomadenstamm irgendwo in der Wüste Nordafrikas oder in einer anderen Zeit als Königin am Persischen Golf. Ich sah sie an und legte meinen Kopf an ihre Schulter, dann nahm ich ihre linke Hand in meine und verharrte so. Sie war die Einzige aus unserer Familie, bei der ich mich immer wie ein Kind fühlen konnte. Das Gefühl war abrufbar: Ich musste sie nur fühlen, sie berühren und kurz die Augen schließen, und schon war ich ihr kleines Mädchen, das sie beschützte, das sie verwöhnte und dem sie die Leviten las.
    – Er will etwas klären, ich verstehe noch nicht ganz, was, und das macht mich krank; er bedrängt mich, redet ständig davon, dass er meine Hilfe brauche.
    Es roch nach Salz, es roch nach früher, und ich fragte mich, was genau es war, das mich wie ein Zwang immer wieder zurückzuschauen ließ, und warum mir meine Gegenwart so hauchdünn, so körperlos erschien, während meine Vergangenheit so ganz aus Fleisch und Blut war.
    Mir war klar, dass Tulja vieles wusste , aber dass sie sich, wie alle aus unserer Familie, fürs Schweigen entschieden hatte. Dass sie zu Ivo hielt, weil sie ihn liebte und verteidigte und weil sie in ihm etwas sah, das die anderen übersahen, dass sie seit Jahren darum bemüht war, die Wunden nicht allzu breit aufzureißen, dass sie jetzt genau das Gleiche von mir erwartete, was sie an den Tag legte: Schweigen, Selbstkontrolle, Disziplin und auf gar keinen Fall einen Blick zurück in die Vergangenheit.
    – Keine Ahnung, was er da zu klären versucht, aber ich bin mir sicher, dass du dich keinesfalls darauf einlassen solltest. Dass du heute andere Verantwortung trägst und dass du vernünftig sein solltest.
    Ich schwieg, ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, ob ich überhaupt einen klaren Gedanken im Kopf hatte, außer einer nackten, sprachlosen Angst um mich, um meinen Sohn, um meinen Mann, um mein mühsam zusammengeflicktes Glück.
    Ich nahm ein Stück Streuselkuchen und trank gierig den starken Kaffee. Am liebsten hätte ich mich irgendwo verkrochen und abgewartet, bis der Sturm draußen vorübergezogen wäre. Bis die Badesaison wieder eröffnet wäre. Bis …
    Sie sah mich an und schaute mir prüfend in die Augen, wie sie es früher immer getan hatte, wenn sie herausfinden wollte, ob ich sie belog. Ich versuchte ihrem Blick standzuhalten.
    – Oh, nein, stöhnte sie und wendete sich ab, stand auf, ging umher, rauchte und setzte sich seufzend wieder zu mir. Ich war mir sicher, worauf sie anspielte, also sah ich sie an und versuchte mich nicht mehr dagegen zu wehren; meine Augen haben, im Unterschied zu Ivos, niemals etwas zu verhüllen vermocht. Sie hatten mich schon so oft verraten, denn ich hatte die Augen meiner Mutter, Augen, die Leni und ich geerbt hatten, die Augen der Arzttochter: immer ein wenig zu schreckhaft für die Welt, immer ein wenig unsicher.
    – Was denn?, fragte ich vorsichtshalber nach.
    – Du bist also zu ihm ins Hotel gegangen?
    – Ja.
    – Das darf doch nicht wahr sein, Stella. Warum tust du das? Lass ihn sein Leben führen, und du kümmerst dich um deines. Er muss bald wieder weiterreisen, sagt er, er macht Recherchen, er ist einer Geschichte auf der Spur, sagt er. Und ich bin nicht sicher, ob er daran denkt, jemals wieder hierher zurückzukommen. Ich bezweifle sogar, dass er vorhat, wieder nach New York zu gehen. Ich habe auf seinem Schreibtisch Papiere gesehen: Er hat seine Wohnung dort gekündigt, hat wohl seine Sachen zu Gesi gebracht.
    – Was soll ich machen?, sagte ich und sah zum aufgewühlten Himmel, der zwischen dunkelschwerem Grau und Blau changierte.
    – Fangen wir doch damit an, dass du dich fragst, was du willst.
    – Ich weiß es nicht!, antwortete ich trotzig.
    – Stella, sieh mich an, sieh mich an und beantworte meine Frage: Willst du ihn? Willst du ihn wieder? Willst du deinen Mann, deine Familie aufs Spiel setzen, für ihn? Willst du das alte Leben, das dir nicht guttut? Willst du all das? Willst du es?
    Ich stand auf und ging davon. Sie eilte mir nach, sie würde mich jetzt nicht mehr in Ruhe lassen, sie ergriff meinen Ellenbogen und riss mich zu sich herum. Ich

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