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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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sah, dass sie Angst hatte.
    In dem Moment verspürte ich eine Gereiztheit in mir, ich nahm wahr, dass auch Tulja sich weigerte, zurückzublicken, dass auch ihr Ivos Suche Unannehmlichkeiten bescheren konnte, dass sie zwar sehr offenherzig ihre Liebe an uns verteilte, aber das zu ihren Konditionen tat, dass sie von Ivo wie von mir weiterhin stillschweigend erwartete, dass wir nichts unternahmen, um die langerkämpfte Ruhe zu stören.
    – Ich wünschte, ich wollte es nicht, Tulja. Aber was soll ich sagen? Manchmal frage ich mich, ob es nicht folgerichtig ist, dass er gekommen ist, um seine Fragen beantwortet zu bekommen. Ob das nicht einfach nur logisch ist, dass er hier ist und ich ihm das gebe, was er von mir verlangt.
    – Sag mal, bist du von Sinnen? Was bezweckst du damit eigentlich? Was sollst und willst du ihm geben? Ihr seid doch keine Kinder mehr, werde endlich erwachsen, Stella! Sieh dich um, sieh dir dein Leben an, sieh dir ihn an.
    – Ja, genau das tue ich. Genau das meine ich. Niemand, niemand hat ihm zugestanden, in all den Jahren nicht, dass es sein gutes Recht ist, zu sprechen, sich zu erinnern. Weder Vater noch ich …
    – Ihr wart kleine Kinder. Er kann dafür nichts. Warum fängst du damit an?
    – Wir alle können was dafür, wir alle tragen diese Konsequenzen. Hat Papa jemals darüber gesprochen? Habe ich das je getan? Hat Leni das getan? Und nun wollen wir, dass alles genauso weitergeht wie früher, dass wir nicht gestört werden. Aber das ist doch nicht normal?
    – Nicht normal ist, dass eine erwachsene Frau nicht die Verantwortung für ihr Leben übernehmen will, mit der Begründung, dass sie und ein Sechsjähriger, mit dem sie damals zufällig spielte, irgendwas vermasselt haben.
    – Das stimmt nicht, das ist alles Unsinn, das war alles nicht so. Du warst nicht dabei, niemand war dabei. Woher willst du das alles wissen? Wieso fragt uns keiner, wieso hat uns nie jemand gefragt, was damals war, wie es für uns war?!
    – Verdammt noch mal, Stella, er war lange genug in allen möglichen Therapien, wir haben alle unser Bestes getan, was denkst du, was wir wollten? Und wir haben ihm alles gegeben, was wir konnten. Wir haben euch allen das Beste gegeben, was wir geben konnten. Und sieh ihn an, er ist ein selbstständiger, erfolgreicher Mann, er ist wohl hier nicht das Problem.
    – Okay, dann bin ich das Problem? Ich bin also das Problem der Familie, okay, okay …
    – Das hat niemand behauptet!
    – Vielleicht ging es nicht um das, was ihr uns gabt, sondern darum, was wir abgeben wollten?
    – Es geht hier darum, dass ihr euch nicht gutgetan, euch zerfleischt und euch geschadet habt und dass keiner von uns sich weiterhin um euch zwei Sorgen machen will.
    – Manchmal reicht es nicht, manchmal reicht es nicht, für jemanden da zu sein, ihn zu lieben, es reicht nicht dafür, dass man vergisst, egal, wie die anderen sich darum bemühen, sagte ich und begann zu weinen. Ich hatte lange nicht mehr geweint, nicht so oft wie in den letzten Tagen. Mein ganzer Körper wurde von einem Weinkrampf durchschüttelt, an den Baum gelehnt, von dem unser Baumhaus trostlos und vereinsamt auf mich niederblickte. Tulja legte ihren Arm um meine Schulter, sah mich an und schüttelte den Kopf, immer wieder schüttelte sie den Kopf über mich, über sich und über all das, was kommen würde.
    Tulja und ich hatten uns wieder hingesetzt und starrten vor uns hin. Ich hatte gierig den Kuchen aufgegessen. Es nieselte ein wenig. Sie streichelte meine Hand. Ich wäre am liebsten ins Baumhaus geklettert und hätte mich darin verschanzt.
    – Es bringt nichts, es bringt wirklich nichts, sich zurückzudrehen. Man muss weitergehen, vorankommen, immerzu muss man das, glaub mir, sagte sie und sah mich mit ihren dunklen, wundervollen Augen an.
    Ich bewunderte sie, ich habe sie immer bewundert, schon damals, als ich in Eimsbüttel wohnte und zwischen Emmas Geisterhaftigkeit und Mutters Bodenständigkeit hin- und hergerissen war. Tulja war ihr Lebtag »anders«, und diese Andersartigkeit hat sie immer zur Geltung zu bringen gewusst. Ich bewunderte ihren Stolz und ihre Kraft, ihre Liebe zum Meer, ihren Hang zur Theatralik, ihre wilden Rosen, ihre eiserne Liebe und ihre Ausdauer. Sie hatte sich als Ersatzmutter verpflichtet, nicht nur für uns, sondern auch für meinen Vater, dessen Mutter an Depressionen litt und an Alkoholsucht und die ihren Sohn oft allein zu Hause ließ, wenn sie in irgendwelchen schäbigen Nachkriegskabaretts ihrem

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