Mein Sanfter Zwilling
großen Traum von einer Schauspielkarriere hinterherjagte. Bis sie an einer verschleppten Lungenentzündung starb, als Vater vierzehn wurde. Danach wurde Tulja zu seiner Mutter.
Aber ich hasste Tuljas Schweigen mehr als mein eigenes, als das Schweigen von Mutter, als Vaters Schweigen, als Lenis Schweigen. Vielleicht weil sie mir schon immer als eine Art Vorbild diente und ich mir am ehesten von ihr Ehrlichkeit erhoffte. Vielleicht hatte ich mir von ihr am allermeisten gewünscht, sie würde Fragen stellen. Absurderweise fiel es mir leichter, bei meinen Eltern das Vergessen hinzunehmen, als bei ihr. Je älter ich wurde, desto mehr misstraute ich ihrem Frieden, ihrer Idylle, in der sie sich an diesem verschlafenen Ort eingerichtet hatte, desto mehr misstraute ich ihrer Traumwelt und ihrer Andersartigkeit, desto mehr fragte ich mich, ob das Leben, das sie lebte, nicht genauso eine Flucht war wie das Leben all meiner Familienmitglieder.
– Ich weiß es nicht, Tulja. Mein Kopf ist leer. Wo soll ich denn anfangen? Ich meine, was will er finden?
Und in dem Moment, als ich das aussprach, kannte ich bereits die Antwort auf die Frage, in dem Moment verstand ich, dass es falsch war, diese Frage immer und immer wieder zu stellen. Und ebenso begriff ich, jenseits allen Selbstmitleids, dass die Antwort mein Leben ruinieren würde; dass er gekommen war, um mein Eingeständnis zu hören.
Er hatte mir immer wieder von seinem Gefühl eines geborgten Lebens erzählt, das Gefühl, das ihn sein Lebtag begleitete, und an jenem Nachmittag, neben Tulja sitzend, verstand ich auf einmal, was er meinte.
In Ivo verliebt hatte ich mich das erste Mal mit sechs. Damals war meine Liebe einsam, beängstigend, ausharrend. Das Geheimnis unserer Eltern hatte uns schweigsam und altklug gemacht.
Das zweite Mal verliebte ich mich in ihn, als er zu sprechen aufhörte und zu uns zog, als er heulend und schreiend nachts aufwachte und als keiner imstande war, ihn zu besänftigen, den neunjährigen Jungen mit den spitzen Zähnen und den großen Ohren. Als er monatelang nicht sprach und ich ihm die Sprache zu ersetzen lernte, indem wir ein gemeinsames stummes Vokabular entwickelten. Als ich ihn zu allen Therapeuten und Betreuern begleitete, da nur ich seine Mimik und Gestik in Worte übersetzen konnte, bis sie irgendwann viel mehr zu meinen Therapiesitzungen wurden, auch wenn ich stets versucht hatte, seine Welt durch meine Augen wiederzugeben.
Das dritte Mal verliebte ich mich neun Monate nach unserem Umzug zu Tulja nach Niendorf. Angesichts der dauerhaften Überforderung meines Vaters, nach einem knappen Jahr von Ivos Schweigen, als er bereits rudern lernte, immer besser und besser schwamm und wieder zur Schule ging; an dem Morgen, als er bei Leni und mir klopfte, mich weckte und sagte: »Komm, lass uns zum Strand gehen; es ist warm.« Das waren die ersten Worte seines neuen Lebens bei uns, und sie gehörten mir.
Das vierte und letzte Mal war es die Liebe eines hitzigen Sommers, die an meinen Knöcheln und Schläfen haften blieb wie der Julischweiß, den ich nie mehr habe abwaschen können: als ich fünfzehn wurde und ihn das erste Mal beim Baden sah, wie er sich entkleidete und ins Wasser stieg. Ich hatte ihn schon hunderte und tausende Male zuvor ins Wasser gehen sehen, und doch war jener Anblick ein anderer, mein Blick hatte sich verändert.
Ich sah ihm zu, aus der Ferne, blieb aus irgendeinem merkwürdigen Instinkt fern, obwohl ich mich nach nichts mehr sehnte, als mich zu entkleiden und ins Wasser zu rennen. Zu Ivo. Ins Meer.
Ja, ich glaube, das war das Gefühl, das ich an ihm so liebte, in jenem Sommer, an den Nachmittagen am Strand, während der Stunden in der Scheune, zwischen den frisch gestrichenen Booten in Tuljas Verleih: das Gefühl der Gegenwart, das er monarchisch verbreitete, totalitär um sich streute wie Goldstaub in einer Karnevalsnacht. Er existierte in der Gegenwart wie kein anderer Mensch. Manchmal machte seine Zukunfts- und Vergangenheitslosigkeit alle anderen um ihn und teilweise auch mich verrückt. Er wusste nie, was morgen für ein Tag war, wo er hinmusste, was in der Schule für den übernächsten Tag anstand, wann wer Geburtstag hatte; aber das Faszinierende daran war, dass, sobald der Tag da war, sobald das Morgen zum Heute wurde, er sich an alles erinnerte, da war, wach und neugierig.
Das Fehlen von Gestern und Morgen ermöglichte uns in jenem Sommer und auch viele Sommer danach ein Heute, das stärker und lebendiger
Weitere Kostenlose Bücher