Mein Sanfter Zwilling
so voller Hoffnung und Versprechen für die Zukunft, die in diesen Stunden nach Zuckerwatte, Bratäpfeln und Karussell schmeckte.
Es gibt ein Bild von mir, von Abi gemacht, auf dem ich auf der Couch kauere, rauchend, ein Buch lese und Xerxes seinen Kopf in meinem Schoß versteckt. Ich bin weit weg und bin doch da. Ich mag dieses Bild. Auf dem Bild scheint alles noch so offen. Als gäbe es Tausende und Abertausende von Varianten meines Lebens, meines Ichs, und ich bräuchte nur die Hand auszustrecken, und schon wäre ich wer.
In der Zeit besuchte ich Vater, der anfing, immer jüngere Frauen nach Hause zu bringen, wieder öfter. Damals arbeitete er noch halbtags als Lektor in einem Sachbuchverlag, und ich bat ihn, mir einen Job zu vermitteln. Er stellte mich dem Leiter vor, und bald war ich drei Tage die Woche im Verlag und ordnete Texte, korrigierte sie oder tippte Protokolle ab.
Kurz darauf begann ich selbst zu schreiben. Abi hatte einen Freund, Michel, der für eine studentische Zeitung schrieb und politisch engagiert war. Ich mochte ihn, und wir trafen uns öfter und diskutierten über Politik und Kunst.
Ich schrieb Essays und kleine Aufzeichnungen. Anfangs ohne jegliche Ambitionen. Später zeigte ich sie Michel. Er schien angetan und druckte ein paar Wochen später einen Aufsatz von mir in seiner Zeitung ab.
Vater bestärkte mich in meinem Wunsch zu schreiben. Er hatte immer Bücher schreiben wollen und es immer verschoben, bis eines Tages sein Wille gänzlich eingeschlafen war und er sein Leben lang nur noch Rezensionen verfasste, andere kritisierte oder lobte und vor allem korrigierte, lektorierte, Verbesserungsvorschläge machte. Immer schien er dabei zu kurz zu kommen, und immer schimmerte eine Sehnsucht durch. Dass Ivo und ich nun sein Feld weiterbestellen sollten, später auf ihre Art auch Leni, beeindruckte ihn, da er darin seinen Einfluss zu sehen erhoffte, es sich vielleicht auch einredete. Aber vielleicht hatte er damit auch Recht, ich weiß es nicht.
Ivo ging für ein Jahr nach London und arbeitete beim Daily Telegraph . Alle bei uns zu Hause waren von ihm begeistert. Tulja lobte andauernd seinen Mut zum Extremen. Ich verstand nicht, was an London so extrem sein sollte, und war wütend darüber, dass Ivos Erfolge Leni und mich völlig in den Schatten drängten.
Es war das Jahr, in dem ich versuchte, ihn von meinem Leben abzukratzen wie eine alte Tapete von der Wand.
11.
– Bist du wieder gesund?
Theo saß in seinem verdreckten Trikot auf der Bank am Rande des Fußballplatzes und sah mich misstrauisch an. Mein Kopf arbeitete auf Hochtouren: Ich versuchte aus Theos Blicken und Gesten zu erraten, was ihm erzählt worden war und wie verängstigt oder wütend er war.
Sein Gesicht verriet mir nichts. Sein Gesicht ähnelte dem seines Vaters. Die leicht mandelförmigen Augen erinnerten mich an seinen Großvater, der indisch kochte, einen Audi TT fuhr und noch immer erzählte, wie er einmal auf einer Anti-Vietnamkrieg-Demo verhaftet worden war.
Ich suchte mich vergeblich im Gesicht meines Sohnes.
Ich suchte mich vergeblich im Gesicht meines Vaters.
Ich suchte mich vergeblich im Gesicht meines Mannes.
– Es geht mir besser. Du fehlst mir. Wie ist es bei Opa und Oma?
Ich hatte es nicht ausgehalten, war zu Theos Fußballtraining gegangen. Es hatte seit dem Morgen in Strömen geregnet, und mir war zum ersten Mal aufgefallen, dass es Frühling geworden war: der nahtlose Übergang von einem verregneten Winter in einen verregneten Frühling.
– Mir geht es gut. Vielleicht kriege ich einen Hund zum Geburtstag.
Nach dem Satz wusste ich, dass es bereits 1:0 gegen mich stand, im Spiel mit Mark, mit seinen Eltern. Und dass das Spiel bereits begonnen hatte. Mir fiel plötzlich ein, dass Theo in zwei Wochen sieben wurde. Und schon wieder wurde mir übel vor Angst, und schon wieder musste ich tief durchatmen, sah zum grauen Himmel hinauf und fragte mich, warum mich dieses Kind mit seiner altklugen Reserviertheit und seiner übertriebenen Höflichkeit so wahnsinnig machte und gleichzeitig eine solche Sehnsucht in mir weckte, nach dem kleinen Menschen in ihm und der Wärme, die er ausstrahlte.
– Wir haben uns doch geeinigt, dass ein Hund noch nicht geht, Liebling?, erwiderte ich. Und dachte im selben Moment: Ja, warum nicht? Wenn die Mutter weggeht, die Familie verlässt, dann wird für das Kind ein Trosthund angeschafft. Vielleicht war das der Grund, warum ich darauf bestanden hatte, meinen Familiennamen
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