Mein Sanfter Zwilling
zu behalten: Ich wollte nicht zu dieser »Schnickschnack-Familie« gehören, wie Tulja die Simons immer nannte. Vielleicht aber war es auch ein irreparabler Fehler; vielleicht hätte ich meine Andersartigkeit von Beginn an nicht in den Vordergrund stellen sollen, denn irgendwie hatte ich Mark mit dieser Entscheidung klargemacht, dass ich niemals ein Teil von ihm und seiner Familie sein würde.
– Du weißt doch, Theo, erinnerst du dich nicht, wie wir darüber geredet haben, dass ein Hund momentan nicht wirklich geht – wegen Mamas Arbeit und Papas Arbeit und deiner Schule. Wir haben darüber geredet und auch darüber, dass ein Hund riesig viel Arbeit macht und dass du ein Tier erst dann bekommen kannst, wenn du selbst einmal in der Lage bist, die Verantwortung zu übernehmen.
– Ja, aber Opa hat gesagt, dass der Hund bei ihnen wohnen bleibt und dass ich mich nur an den Wochenenden um ihn kümmern muss.
– Papa findet das auch gut, fügte Theo hinzu.
Ich sah ihn an und begann ihm den verschwitzten Kopf mit seinem Handtuch abzutupfen.
– Ich möchte das nicht, Theo, sagte ich und wusste sofort, welche unglaubliche Enttäuschung es für ihn bedeuten musste, dass er gleich dagegen aufbegehren, seinen Kopf aus meinen Händen losreißen würde. Aber er senkte nur den Blick.
– Was ist mit dir?, fragte er und fügte kein »Mama« hinzu.
– Ich bin im Moment ein bisschen übermüdet, Theo. Bald werde ich wieder in Ordnung sein. Ich muss nur ein wenig nachdenken und ein wenig allein sein. Und viel schlafen.
Ich lächelte ihn aufmunternd an und spürte, dass er mir diesmal noch weniger glaubte als zuvor. Etwas zog sich in meiner Kehle zusammen, und ich hatte das Gefühl, nicht weitersprechen zu können. Kein einziges Wort mehr.
Es hatte wieder heftig zu regnen angefangen. Die anderen Kinder rannten über den Rasen Richtung Umkleidekabinen, hektisch eilten Mütter mit Miniatursporttaschen ihnen hinterher. Bis vor wenigen Wochen hatte auch ich zu der Spezies gehört, und jetzt schlich ich mich wie eine Diebin auf den Sportplatz, um von ferne meinem Sohn zuzusehen.
– Warum können wir nicht nach Hause gehen?, fragte er mich, und diesmal war seine Stimme weniger beherrscht, und ich hörte seine Angst heraus: die Angst davor, dass ihm seine Normalität, seine Zukunft, sein Zuhause geraubt werden würden.
War ich für ihn zu einer Bedrohung geworden? Würde er mich dafür verabscheuen? Ich würde wie meine eigene Mutter werden, als sie kurz vor der Scheidung einen Kongress in New York besucht und uns das erste Mal allein gelassen hatte. Vier Wochen lang.
Nach ihrer Rückkehr fuhr sie mit uns in ein Café, bestellte uns Spaghetti-Eis und begann zu weinen. Dann sagte sie, dass es nicht mehr mit unserem Vater ginge.
Nicht bei der Beerdigung von Ivos Mutter, nicht ein einziges Mal während der katastrophalen Wochen nach den für Emma tödlichen Schüssen, während der schier unerträglichen Befragungen durch die Polizei und andere Behörden hatte Gesi derart die Fassung verloren. Da saß sie wie ihr eigener Schatten vor uns: schwach, elend, einsam und mit einer tiefen inneren Wut, die sie nicht gegen ihren Mann zu richten wagte, der die Ursache des ganzen Leids war.
Ich war sieben, als meine Mutter oder das, was für mich von ihr übrig geblieben war, mit uns im Café saß und uns mit einem unsicheren Blick ansah.
Auch Theo würde in zwei Wochen sieben werden.
– Hört mir jetzt gut zu, seht mich an, Leni, Stella, bitte, hört auf, im Glas herumzustochern, hört mir zu. Stella! Ich habe ein Angebot bekommen. Ich gehe nach Amerika. Eine große Arzneifirma wird mich einstellen. Ich werde mehr Gehalt bekommen, und sie garantieren mir viele Vorteile. Aber es ist in Amerika. Das heißt, dass wir wegziehen müssen, von hier, von zu Hause, dass wir eine Weile nicht mehr hierherkommen. Und das bedeutet, dass wir ohne Papa leben werden, sagte sie. Im Nachhinein bewunderte ich sie für ihre Konsequenz, ihren Mann weiterhin Papa zu nennen.
– Natürlich könnten wir jetzt nach Hause gehen, mein Liebling. Natürlich. Aber Papa hält es für besser, dass du zu deinen Großeltern gehst, verstehst du, damit ich ganz gesund werden kann. Es war Papas Idee.
Ich sah, dass ihn meine Antwort ein wenig tröstete; wenn Papa mit im Spiel war, dann konnte alles nicht so schlimm sein, er lächelte wieder, sein Gesicht hellte sich auf.
– Schau her, ich hab eine Monsterbeule am Ellenbogen! Er zeigte mir stolz die angeschwollene
Weitere Kostenlose Bücher