Mein Sanfter Zwilling
Stelle.
Ich drückte ihn fest an mich und wirbelte ihm die Haare durcheinander. Er roch nach Schweiß und Kindheit. Nach unzähligen süßen Versprechen roch er.
Ich sah Mark auf uns zukommen; er schien unangenehm berührt, mich hier zu sehen, doch wusste ich, er würde sich beherrschen und in Theos Anwesenheit nichts Unpassendes sagen. Er umarmte mich sogar, was mich überraschte, bis mir klarwurde, warum er es tat: Ich sah, wie Theo uns beobachtete, wie er uns musterte. Und Mark spielte perfekt.
Theo plapperte irgendwas, und Mark und ich standen vor der Umkleide und sahen uns an. Mark schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Ich nickte.
– Ich muss dich sprechen, flüsterte ich und beugte mich zu ihm. Ich roch sein Rasierwasser, und in diesem Augenblick empfand ich eine merkwürdige Nähe zu ihm; wir waren wie zwei Verbündete im Kampf um uns selbst.
– Nicht jetzt, sagte er.
– Wir müssen!
– Ich komme heute Abend bei dir vorbei, dann können wir reden.
Ich nickte und musste mich beherrschen, um nicht loszulachen: Wir mutierten zu zwei Dieben, die sich ins eigene Leben schleichen. Wie er gesagt hatte: Ich komme bei dir vorbei , als wäre es nicht sein Zuhause, als wäre ich nicht seine Frau, als wäre es nicht unser Leben.
Damals sagte uns Mutter, es sei ein Neuanfang. Alles neu. Die Neue Welt. Am schwersten fiel es ihr, von einem Mann zu berichten, den sie auf jenem besagten Kongress kennengelernt hatte, der James hieß und in dem sie die größte Chance für einen Neuanfang sah. Aber sie sprach es schließlich aus. Daraufhin verzog Leni die Unterlippe, stand abrupt auf und rannte auf die Toilette. Ich blieb vor unserer Mutter sitzen, die ihre letzte Träne hinunterschluckte und mich lächelnd ansah. Inmitten all der Trümmer gab es auf einmal ein Lächeln.
– Es tut mir leid, Stella, sagte sie flüsternd. Als hätte sie darauf gewartet, dass ihre ältere Tochter den Tisch verließ, um der jüngeren mitzuteilen, dass sie alles gewusst und lange, viel zu lange gezaudert hatte.
– Ich hätte es nicht zulassen dürfen, dass er dich dahin mitnimmt.
Dahin. Sie hatte zum ersten Mal den Ort erwähnt; zum ersten Mal nahm der Ort samt den Menschen Gestalt an. Wurden real. Ich sah in meinen leeren Becher und kratzte mit der Gabel darin herum.
– Ich hätte es verhindern müssen.
– Es ist nicht deine Schuld, sagte ich und ließ die Gabel liegen. Es ist auch nicht Papas Schuld. Es ist meine Schuld.
Mutter schrak zusammen, legte dann zerstreut ihre kühle Hand auf meine; ich zog sie weg. Sie suchte meinen Blick, ich wandte die Augen ab.
– Aber nein doch, Schätzchen, nein doch. Du darfst so etwas niemals denken, hörst du, denn das stimmt nicht, ganz und gar nicht!
Es ist meine Schuld.
Es ist meine Schuld.
– Ich hasse dich, sagte damals meine Schwester zu meiner Mutter. Und ich denke, dass Leni aus Trotz damals Nein sagte, aus lauter stummer Wut sagte sie Nein zum neuen Leben, auch wenn ihr altes Leben in Schutt und Asche lag.
Und vielleicht sagte ich jetzt aus Trotz Nein zu meiner Gegenwart.
– Eines Nachts, am Ende der Schwangerschaft, habe ich einmal geträumt, dass Theo in dieses Loch fallen würde und ich ihn verlieren würde, dass ich ihn nicht mehr auf die Welt bringen könnte. Ich bin schweißgebadet aufgewacht; du hast friedlich neben mir gelegen und hast fest geschlafen; ich habe mich an dich gepresst und meinem Herzklopfen zugehört. Ich hatte schon immer das Gefühl, als hätte ich ein Loch in mir. Als würde alles, was ich empfinde, am Ende immer in dieses Loch fallen, als könnte ich nichts endgültig in mir behalten. Ich habe immer gehofft, ich würde im Laufe der Jahre ein Mittel finden, um dieses Loch zu schließen, es aufzufüllen mit Leben oder irgendetwas, aber es gelingt mir nicht. Jedenfalls nicht auf Dauer. Ich habe gehofft, ihr seid dieses Mittel: du, Theo, meine Familie, meine Arbeit. Aber …
Ich sagte das in unserem Wohnzimmer sitzend zu Mark, der mich mit unrasiertem Gesicht und tiefen Augenringen ansah, während ich rauchte und Gin Tonic trank. Was ihn sichtlich anwiderte, mich noch weniger glaubwürdig für ihn machte. Er war wie angekündigt noch am Abend, nachdem ich ihn auf dem Fußballplatz getroffen hatte, gekommen, vorgeblich, um ein paar Anziehsachen zusammenzusuchen.
– Wie kannst du so was sagen? Ich meine, du bist jetzt vor allem eine Mutter. Hier liegt deine ganze Verantwortung. Ich kann dich nicht verstehen, Stella. Das
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