Mein Sanfter Zwilling
Ganze nimmt langsam völlig verrückte Züge an. Ich komme mit all dem ganz und gar nicht mehr klar. Wie kannst du sagen, dass es in deinem Leben nichts gibt, was dir wichtig ist?
– Das habe ich nicht gesagt, Mark. Ich habe nur gesagt, dass ich eine Leere in mir spüre.
– Sieh dich an, sieh dich an, Stella – du hast mich betrogen, du setzt unsere Beziehung aufs Spiel. Wach auf. Ich weiß nicht, wie lang ich dir noch verzeihen kann. Ich weiß nicht.
Die Schlucht zwischen uns vergrößerte sich. Vielleicht würde ich in letzter Sekunde doch noch fliegen lernen.
– Ich muss spätestens jetzt am Samstag nach Zypern fliegen. Die Aufnahmen dort sind schon im Gange. Ich muss dabei sein, wenn sie drehen. Es wäre gut, wenn du bis dahin wieder für Theo da wärst.
Seine falsche Großzügigkeit ekelte mich an; sein bemühtes Verständnis stieß mich ab. Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht und putzte die Nase.
– Ich bin immer für Theo da. Das weißt du.
– Das bist du nicht, so nicht, Stella, sagte er und erhob sich.
– Warte.
Ich weiß nicht, warum ich mich zu ihm drehte und versuchte, ihn aufzuhalten. Er sah mich erstaunt an. Er wusste nichts zu sagen. Ich ging auf ihn zu.
– Es tut mir leid, ich wünschte …
Er ließ mich nicht ausreden und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen. Er wich meinem Blick aus, als wäre er ansteckend.
– Bitte, lass mich, sagte er nur und ging an mir vorbei. Ich eilte ihm hinterher; ich hatte das Gefühl, ihm alles erklären zu wollen, erklären zu müssen, obwohl ich wusste, dass es unmöglich war. Ich hielt ihn am Ärmel fest. Wir standen im Flur, es war dunkel, ich hatte das Licht nicht angemacht. Ich klammerte mich an ihn und versuchte ihn zu umarmen. Ich versuchte ihn zu küssen, als wäre es der letzte Fetzen Illusion von Nähe, von Verstandenwerden und Heimat.
– Was tust du da?, schrie er mich an, mit einem unterdrückten Schrei, und ich wusste, dass er zu sehr er war, um einen angemessenen Schrei zuzulassen.
– Hör mich an!
– Das alles ist unwichtig, das alles ist unwichtig. Es zählt nur das, was du tust, flüsterte er und lehnte sich in der Dunkelheit gegen die kühle Wand.
– Hilf mir, Mark, sagte ich und versuchte seine Hand in meine zu nehmen; er entzog sie mir.
– Helfen, wobei? Mich zu verlassen? Das musst du schon allein können, wenn du das willst. Ich komme am Freitag und bringe Theo nach Hause, sagte er und ging. Ich wusste, dass er mich erpressen wollte, dass er, wie seine Eltern den Hund, nun das Kind einsetzte, um mich zur Besinnung zu bringen.
Ivo und ich waren uns anderthalb Jahre aus dem Weg gegangen. Aus London kehrte er als der erfolgreiche, der gefeierte Sohn der Familie nach Niendorf zurück. Ivo hielt es da nur eine Woche aus und zog dann nach Hamburg zu Vater, der sich nicht anmerken lassen wollte, wie beruhigt er war, dass Ivos berufliche Karriere auf dem besten Weg war. Leni schrieb mir, Ivo sei auch bei ihr in Berlin aufgekreuzt, sie wären nächtelang um die Häuser gezogen und er sei sehr lieb und interessiert gewesen, wie er sich überhaupt zum Guten verändert habe; sie konnte die Anmerkung nicht unterdrücken, dass Ivo mich nicht erwähnt habe. Vater erzählte mir, er habe wegen seiner guten Leistungen ein Stipendium für die Universität München bekommen und dort einen Platz in Publizistik erhalten.
Ich habe Ivo in dieser Zeit nur ein einziges Mal gesehen:
An dem Tag wollte ich Vater besuchen und bog mit dem Fahrrad um die Ecke in die Straße ein, in der ich gewohnt hatte, als meine Mutter noch da war und als Ivos Mutter noch lebte. Ich hörte jemanden hupen, und als ich mich umdrehte, sah ich Ivo auf einem alten Moped, in einem weißen T-Shirt und mit einer Sonnenbrille – wie ein Dandy – mich angrinsen, als hätten wir uns zuletzt vor ein paar Tagen gesehen.
Ich bremste, fuhr an den Straßenrand und wartete, bis er von seinem Moped stieg. Er sah aus wie einer, der sich seiner sicher war, der seinen Weg eingeschlagen hatte. Ich befand mich definitiv nicht auf demselben Weg.
Er sah mich an, nahm die Sonnenbrille ab und breitete die Arme aus. Ich ließ ihn stehen, ignorierte seine ausgebreiteten Arme, lächelte ihn auch nicht an.
– Dir scheint es gutzugehen, sagte ich.
– Magst du mir nicht einen Kuss geben, Stella?
– Besser nicht.
– Da wäre wohl dein Freund eifersüchtig?
Sein Ton war scharf, zynisch, das Grinsen um seine Mundwinkel reine Provokation.
– Nein, wäre er nicht, da kannst du
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