Mein Sanfter Zwilling
beruhigt sein.
– Hast mich also nicht vermisst?, fragte er und zündete sich eine Zigarette an.
– Was soll das jetzt bringen, Ivo? Fährst du zu Vater?
– Hängt davon ab, wo du hinfährst.
– Was soll das? Spielen wir wieder ein Spiel?
– Weiß ich noch nicht. Das frage ich mich schon länger.
– Ach, komm schon, wir sind keine Kinder mehr, lassen wir das. Es ist doch alles bestens, nicht?
– Ist es das?
Und wieder kippte sein Ton, und er wurde ernst und ruhig, fast schon bedrohlich.
– Ich hoffe es.
Wir schwiegen eine Weile.
– Gehen wir lieber einen trinken, was meinst du? Wenn uns schon der Zufall hier so schön wieder zusammengeführt hat.
– Warum sollten wir das tun?
– Warum nicht. Wir haben uns doch einiges über Gott und die Welt zu berichten.
Er machte sich über mich lustig. Ich drehte mich wütend um und wollte wieder aufs Rad steigen, da hielt er meinen Arm fest, drehte mich zu sich und sah mich an. Zum ersten Mal nach unserer Begegnung am Strand sah er mich wirklich an. Und in dem Moment dachte ich, dass ich ihm liebend gern die Lider zugedrückt hätte. Fest. Fester.
– Komm mit, bitte.
Ich zögerte noch eine Weile, während sein Lächeln milder wurde und er noch ein paarmal dieses »Bitte« wiederholte, sein Gesichtsausdruck änderte sich, er wirkte auf einmal offener, nicht mehr so gewollt lasziv, und ich ließ mich erweichen.
Ich schloss mein Rad ab und stieg auf sein Moped. Wir rasten davon. Ich hatte aufgehört, Fragen zu stellen, war berauscht von seinem Geruch, der Berührung seines Rückens und der Freude über sein »Bitte«. Alles schien einerlei, und die frühere Vertrautheit war schlagartig da.
Irgendwann landeten wir in einer Bar, die ich noch nicht kannte. Irgendwo zwischen dem Hafen und St. Pauli. Er bestellte uns Bier, und in der Dunkelheit des Raumes, jenseits von Sonne, von Menschen, von meinem Leben, ließ ich mich fallen. Auf einmal schien das Kriegsbeil begraben, es war auf einmal so einfach, mich mit ihm zu unterhalten, es fühlte sich so vertraut an, geduldig hörte er sich mein Leben an und berichtete mir von seinem. Allerdings mieden wir alles, was zu einem erneuten Konflikt zwischen uns hätte führen können.
Er war charmant, von einer unbeschwerten Leichtigkeit, um die Worte und Begriffe virtuos herumtänzelnd, und erst als er auf die Toilette verschwand, fand ich Zeit, mich zu fragen, wie es denn so lange ohne ihn gegangen war; wieso ich diese ganze Zeit dazwischen ohne ihn ertragen hatte und wieso ich nicht einfach zu ihm hingegangen war. In sein Leben.
Nach München würde er ziehen; an Reisen und Umzüge war er ja gewöhnt, und es war ihm letztlich egal, in welcher Stadt er lebte; alle Städte seien irgendwo gleich. Er habe Lust auf Journalismus, er wisse, das würde ihm liegen. Er fragte nach meinen Plänen.
Es war dunkel geworden; leere Biergläser hatten sich vor uns auf dem Tisch angesammelt. Irgendwann taumelten wir aus der Kneipe, und er fragte mich, ob ich noch mitkommen wollte, er hätte für die Tage eine Wohnung von einem Freund, ob wir dort noch eine rauchen wollten.
Es war eine Bruchbude, nicht weit von der Bar entfernt. Mit dem Ausblick auf einen dunklen Hinterhof, es stank nach Muff und nach Hamstern. Warum ausgerechnet nach Hamstern, ich habe dort keine gesehen.
Wir rauchten einen Joint. Alles verlangsamte sich. Musik kam aus einem uralten Radio, und alles erschien schön und stimmig. Alles war vergessen – die Verabredung mit meinem Vater, die Bücher, die auf mich daheim warteten, das Bett, das ich mit Abi teilte, Xerxes mit seinem weichen Fell.
Ich tanzte, langsam, träge bewegte ich mich durch die enge Küche der fremden Wohnung. Ivo sah mir zu, und er lachte. Dann blieb er plötzlich direkt vor mir stehen und sah mich an. Seine Augen irritierten mich, aber ich hielt stand.
– Es ist nicht gut, dass wir so fern sind voneinander, flüsterte er und strich mir eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. Es war Sommer, die Hitze des Tages klebte noch auf unserer Haut. Ich war bereit. Bereit für das Leben, das sich wenden würde wie das Blatt beim Kartenspiel, ich müsste nur einen Schritt näher an ihn herantreten.
Ich war damals zweiundzwanzig.
Und so stellte ich mich auf die Zehenspitzen, taumelte ein wenig, schaffte es aber, das Gleichgewicht zu wahren, das ich brauchte, um ihn zu küssen. Ich erwartete Abwehr, ein Zaudern, einen Schrei, aber keine Erwiderung, und als er meinen Kuss erwiderte, taumelte
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